Jagd auf Flüchtlinge

Die Attacken spielen sich meist ähnlich ab: Ein dunkles Fahrzeug taucht auf, bewaffnete, schwarz gekleidete Männer steigen aus und gehen auf Flüchtlinge los. Verprügeln sie mit Eisenstangen, Schlagringen und Schlagstöcken, manchmal stechen sie auch mit Messern zu.

Diese Angriffe geschehen in Nordfrankreich, bei Calais und dem sogenannten Dschungel.  In diesem Slum-Lager voller Zelte und Hütten aus Spanplatten und Plastikplanen hausen immer noch Tausende Flüchtlinge unter elenden Zuständen – ein Teil des Camps soll nun geräumt werden. Die meisten Flüchtlinge und Migranten aus dem Lager wollen durch den Eurotunnel nach Großbritannien: entweder mit Hilfe von Schleppern oder indem sie auf einen der Laster aufspringen, der als Ziel die britische Insel hat.

Vereinzelte rassistische und rechtsextreme Übergriffe in und um Calais gab es in den vergangenen Jahren immer wieder, aber in jüngster Zeit nahmen die Angriffe zu. In Loon-Plage bei Dunkerque nahm die Polizei sieben Männer im Alter von 24 bis 44 Jahren fest, die vermummt und mit Eisenstangen bewaffnet auf vier irakische Kurden losgegangen waren. Es war wohl nur eine Bande von mehreren.

Einige der Angreifer sollen aus Calais und Umgebung stammen, manche sollen einer ausländerfeindlichen Gruppe namens Calais idéoscope angehören – sie bezeichnen sich als Patrioten und Widerstandskämpfer. Mitglieder dieser Gruppe wurden Anfang Februar während einer verbotenen Pro-Pegida-Demonstration in Calais festgenommen. Etwa 150 Unterstützer der deutschen Vereinigung Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) waren vor den Bahnhof von Calais gekommen – trotz eines Demonstrationsverbots. Sie riefen Parolen wie „Migranten raus!“ und schwenkten französische Flaggen.

Am 12. Februar haben neun Flüchtlinge bei der Staatsanwalt von Boulogne-sur-Mer Anzeige erstattet: gegen fünf Polizisten wegen gewalttätiger Übergriffe – wobei unklar ist, ob die Täter wirklich Polizisten waren oder sich die Täter als Beamte verkleidet hatten. Vier Anzeigen gab es gegen unbekannte Zivilisten. Eine Anlaufstelle für juristische Hilfe im „Dschungel“ unterstützte die Flüchtlinge dabei. Deren Mitarbeiter sprachen von insgesamt 50 Flüchtlingen, die allein Anfang Januar angegriffen wurden. Auch die Ärzte in Calais stellen immer wieder fest, dass viele Verletzungen von gewalttätigen Übergriffen stammen. Manche Opfer hatten schwere Knochenbrüche erlitten und mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden.

Die „Médecins du monde“ protokollieren Zeugenaussagen. Es scheint, dass organisierte Gruppen Flüchtlinge manchmal mehrmals pro Woche angreifen würden. Und das, obwohl Calais einer der überwachtesten Orte Frankreichs ist: 1700 Polizisten und Gendarmen sind dort derzeit eingesetzt.

Traurige Neujahrsbilanz

„Autogrill“ nennen es manche Täter. Eine nicht tolerierbare Tradition und einen furchtbaren Nationalsport, so nennt es der französische Innenminister. An Silvester gingen in Frankreich wieder viele Autos und Zweiräder in Flammen auf – insgesamt 1193. Erstmals seit zwei Jahren veröffentlichte die Regierung wieder diese traurige Bilanz.

„Wenn es um den Kampf gegen Kriminalität und Unsicherheit geht, gibt es nichts zu verbergen“, sagte der sozialistische Innenminister Manuel Valls. Die Franzosen hätten die Wahrheit und Transparenz verdient. Sein konservativer Vorgänger hatte einst beschlossen, die Zahl der verbrannten Fahrzeuge nicht mehr zu nennen. Damit die Jugendlichen in den oft schwierigen Vorstädten nicht Jahr für Jahr ein Wettspiel zwischen Städten und Départements machen könnten nach dem Motto: Wer fackelt am meisten?

Viel geholfen hat das Verschweigen der Bilanz nicht. Die Zahl entspricht ungefähr der der Vorjahre, sie legte sogar leicht zu. Valls legte dieses Jahr sogar eine Liste von neun Départements vor, in denen es am schlimmsten aussah. An erster Stelle steht das Département Seine-Saint-Denis im Nordosten von Paris mit 83 Fahrzeugen. An zweiter und dritter Stelle stehen das Oberelsass (72) und das Unterelsass (70).  In Mulhouse und in Straßburg-Neuhof kam es auch zu den einzigen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Randalierern und der Polizei, bei denen sieben Polizisten leicht verletzt wurden. Insgesamt waren in Frankreich in der Silvesternacht 53000 Polizisten im Einsatz.

Eine Regierung nach der anderen ist ratlos bei der Frage, was zu tun ist. Experten diskutieren seit langem über die Ursachen dieser Gewalt, die Frankreich seit mehr als 15 Jahren kennt. Die ersten Vorfälle passierten im Elsass, dann ging es im Großraum Paris los und breitete sich schließlich im ganzen Land aus. Zu besonders heftigen Ausschreitungen war es im Jahr 2005 gekommen, als die Krawalle in den Vorstädten von Paris nicht mehr aufhörten. Der Tod zweier Jugendlicher, die von der Polizei verfolgt worden waren, galt damals als Auslöser.

Autos brennen aber nicht nur an Silvester. Während des gesamten Jahres muss die Feuerwehr Fahrzeuge löschen, vor allem auch in der Nacht des Nationalfeiertags (14. Juli). Die Jahresbilanzen gehen mal rauf, mal runter – aber sie bleiben beunruhigend hoch: Im Jahr 2011 wurden in ganz Frankreich insgesamt 40244 Fahrzeuge (2010: 43568) absichtlich angezündet. Versicherer sprechen sogar von 60000 Fahrzeugen.

Die Zahlen zu interpretieren, ist schwierig. Denn die Motive der kriminellen Zündler sind unterschiedlicher Natur. Da sind die Jugendlichen in den schwierigen Vorstädten, die oft arbeitslos sind und sich ausgeschlossen fühlen. Für sie sei das Silvester-Autofeuer längst ein Ritus und ein banalisierter Akt geworden, der die „Monotonie einer Nacht durchbrechen soll, die zu sehr der anderen ähnelt“, so der Kriminologe Alain Bauer gegenüber der Zeitung Le Figaro.  Da sind aber auch viele, die selbst ihr Auto anzünden, weil sie Versicherungsbetrug begehen. Manche tun es aus persönlicher Rache oder aus Eifersucht. Auch Diebe zünden Autos an, um Spuren zu verwischen. Einen Teil der Fahrzeuge erwischt es, weil die Flammen übergreifen.  Wer erwischt wird, muss mit hohen Strafen rechnen – das geht bis zu zehn Jahren Gefängnis und 150000 Euro Geldstrafe.

Doch nicht nur diese Bilanz ist traurig. Auch der Umgang damit. Sie müsste eine Debatte auslösen über die tieferen Ursachen der Gewalt in den französischen Vorstädten, den banlieues. Eine Diskussion über Chancenlosigkeit, Rassismus, Jugendarbeitslosigkeit, Erziehung, Städtebau undundund. Kaputte Autos zählen allein ändert nichts.