Neujahr am 1. September

Allen Lesern dieses Blogs wünsche ich ein gutes neues Jahr! Vor allem Gesundheit, denn wenn es irgendwo zwickt, ist es gleich weniger schön. Und: Nur das neue Jahr nicht mit so viel Stress anfangen wie in Frankreich.

Die Pilates-Lehrerin machte mir wieder klar, dass bei le Nachbar am 1. September eine neue Zeitrechnung beginnt. Ich liege auf dem Boden. Sie zeigt eine Übung. Die Gruppe dehnt, spannt an, entspannt, atmet ein, lang aus. Immer schön den Bauchnabel einziehen. „Jetzt beginnt das neue Jahr, da könnt ihr Euch vornehmen, immer schön auf den Bauchnabel zu achten.“

Ich nehme mir gerne Vorsätze, meinetwegen auch einen für meinen Bauchnabel. In Deutschland habe ich mir die immer an Silvester überlegt. Hier gilt für Vorsätze der September, die Zeit der „Rentrée“.

Wie anders war Paris noch vor wenigen Wochen! Die Stadt ist nach dem Nationalfeiertag bis Ende August entstresst. Die Métro ist normal voll. Man bekommt leichter einen Parkplatz, und der ist auf den meisten Straßen im August auch noch gratis. Weil so viele Pariser der stickig heißen Hauptstadt den Rücken gekehrt haben, sind allerdings auch viele Geschäfte und Restaurants geschlossen. Manche Straßenzüge wirken wie in einer verlassenen Westernstadt: Kein Geschäft hat mehr offen, überall hängen Zettel mit „Fermeture annuelle“ an den Türen. Behörden und Firmen haben zu oder nur einen Notbetrieb. Man sieht sich wieder – bei der Rentrée.

Ende August kehren dann alle wieder. Alle gleichzeitig, denn die Sommerferien sind – im Gegensatz zu Deutschland – nicht nach Regionen zeitlich versetzt, sondern einheitlich. Die Autobahnen sind Ende August völlig überlastet. Chaos an den Péage-Stellen.

Bis zu neun Wochen dauern bei le Nachbar die grandes vacances, die großen Ferien. Danach hat man wirklich das Gefühl, dass jetzt eine neue Zeitrechnung beginnt. Die Ferien-Zäsur ist so einschneidend, dass jetzt das Leben neu geordnet wird. Rentrée, was eigentlich Rückkehr oder Heimkehr heißt, ist tatsächlich das Ritual einer Wiedereingliederung in den Alltag. Und das auf allen Ebenen.

Vor allem die Schule ist ein großes Thema. Die 12,3 Millionen Schulkinder in Frankreich müssen ausgestattet werden mit Heften, Stiften, Schulranzen, Sportsachen, Klamotten. In den Abendnachrichten gibt es Beiträge, wie viel die Rentrée für ein Kind durchschnittlich kostet: 189,09 Euro für ein Kind in der 6. Klasse. Einkommensschwache Familien bekommen sogar eine Rentrée-Zuwendung für die Kinder namens Allocation de rentrée scolaire. Sowieso werden alle Rückkehrer von einer Art Rentrée-Kaufrausch erfasst, den die Geschäfte mit Rentrée-Sonderangeboten anheizen.

Es gibt viel zu tun: Keine Zeitschrift ohne Tipps für eine gelungene Rentrée

Es gibt viel zu tun: Keine Zeitschrift ohne Tipps für eine gelungene Rentrée

Es gibt aber auch die politische Rentrée. Sie fing die in diesem Jahr mit einem Paukenschlag an, weil die Regierung zurücktrat und Premierminister Manuel Valls sein neues Kabinett „Valls 2“ zusammenstellen musste. Und dann noch das Ich-ramme-meinem-Ex-ein-Messer-in-den-Rücken-Buch von Valérie Trierweiler, die über ihre Trennung von Staatspräsident Hollande Buchstaben absonderte.

Da wären wir schon bei der literarischen Rentrée, die es freilich ebenso gibt. Neue Bücher neue Filme, herrje, was lese ich denn jetzt im Herbst, damit ich beim nächsten Kulturplausch mitreden kann?

Auch die Deutschen haben ihr Urlaubsende und ihren Schulanfang. Aber weil es in Frankreich landesweit gleichzeitig und nicht nach Regionen zeitversetzt passiert, wird dem Ganzen auch medial viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt.

Keine Zeitschrift kann es sich leisten, keinen Rentrée-Artikel zu haben. Die Texte versprechen alle Tipps, wie man die Rentrée meistert ohne Nervenzusammenbruch. Den kriegt aber mit Sicherheit der, der so eine Liste wirklich abarbeitet: Von „Telefonieren Sie mit einem Energieberater“ über „Finden Sie eine Gratis-Nanny für die Kinder“ bis zu „Sparen Sie Geld, indem Sie ihre Zähne bei Zahnstudenten machen lassen“ ist allerhand Lebensrat und -unrat dabei.

Alles neu. Alles auf Anfang. Silvester und Neujahr sind nix dagegen. Alle flitzen wieder, zeigen ihre neuen Kleider auf braun gebrannter Sommerhaut und wünschen sich: Bonne rentrée!

Gleich nach der Rentrée wären eigentlich ein paar Tage Ferien genau richtig.

Sommerferien extralang

Le Nachbar ist in den Sommerferien. Leere Städte, volle Strände. In Paris bekommt man jetzt mal einen Parkplatz. „Fermeture annuelle“ steht an den Türen vieler Geschäfte wegen ihres wochenlangen Jahresurlaubs – und ein Hinweis an den Briefträger, was er mit der Post tun soll. Die „grandes vacances“ dauern in Frankreich so lange, dass Schüler anderer EU-Staaten neidisch werden können: zwei Monate. Doch viele Franzosen fragen sich: Wie oft werden wir diesen großen Ferienblock noch erleben?

Alle wollen jetzt an den Strand - nur einer darf nicht

Alle wollen jetzt an den Strand – aber einer darf nicht mitkommen.

Für Aufregung sorgte ein Interview des sozialistischen Erziehungsministers Vincent Peillon. Sechs statt acht Wochen Sommerferien seien genug, sagte der Minister, der selbst eine Lehrerausbildung hat. Peillon hat gerade eine Schulreform durchgesetzt. Sie sieht unter anderem vor, dass ab dem kommenden Schuljahr viele Grundschulen von der Viertage- zur Viereinhalbtage-Woche wechseln – der schulfreie Mittwoch gehört dann der Vergangenheit an. Als der Minister auch noch verkürzte Sommerferien ins Spiel brachte, ging das Gezeter los: Schüler, Lehrer, Tourismusbranche und die Opposition, sie alle meldeten sich sorgenvoll zu Wort.

Les grandes vacances – die großen Ferien, sie sind aus dem Jahreszyklus kaum wegzudenken. Sie gelten als Teil des schönen Lebens in Frankreich. Das Land schaltet einen Gang herunter. Die Ferien wurden besungen – etwa von Léo Ferré. Filme widmen sich ihnen – erst vor wenigen Tagen stolperte mal wieder Luis de Funès in „Les Grandes Vacances“ über die französischen Bildschirme. Für Schüler sind diese Ferien eine richtige Auszeit. Ihr Ende ist eine Zäsur wie ein Sommersilvester: kein Wunder, dass danach im September die „Rentrée“ ansteht, die Rückkehr in den Schul- und Arbeitsalltag.

Diese lange Ferienzeit hat historische und wirtschaftliche Gründe im 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts, mit ihr wurde den Wünschen der Bevölkerung entsprochen. Denn die Landwirte brauchten für die Ernte auf den Feldern und in den Weinbergen jede helfende Hand, auch die ihrer Kinder. 1950 arbeiteten noch 49 Prozent der Franzosen in der Landwirtschaft. In den 1960er Jahren dauerten die Ferien noch zehn Wochen. Doch die Gesellschaft wandelte sich, die kleinen landwirtschaftlichen Betriebe wurden weniger.  Anfang der 1980er Jahre verkürzte die Regierung die Sommerferien auf derzeit acht bis achteinhalb Wochen.

Warum jetzt noch mehr Tage streichen? Die Schüler müssten mehr Zeit fürs Lernen haben, sagt Peillon. Zurzeit stünden sie zu sehr unter Druck. Französische Schüler haben ein sehr kurzes Schuljahr, aber zu lange Schultage, kritisieren Experten schon lange. Nirgendwo in Europa sind die Schultage derart vollgepackt. In den meisten EU-Staaten gehen die Kinder durchschnittlich 180 Tage im Jahr zur Schule. In Frankreich sind es nur 144 Tage. Peillon ist übrigens nicht der erste Minister, der dieses heiße Eisen anpackt. Bereits der konservative Minister Luc Chatel setzte 2010 eine Kommission ein, die Vorschläge ausarbeiten sollte, wie der Schulrhythmus verbessert werden könne. Tausende Schüler gingen damals zum Demonstrieren auf die Straße. Es blieb letztlich bei den acht Wochen.

Auch Erziehungsminister Peillon musste nach seinem Interview erst einmal zurückrudern. Im Erziehungsministerium betont man auf Anfrage vehement, dass das Thema grandes vacances nicht Teil der aktuellen Schulreform sei. Aber Peillon hat bereits ein Datum fallen lassen: 2015 soll die Ferienreform debattiert werden. Während die Sechs-Wochen-Befürworter ein besseres Gleichgewicht im Jahresschulzyklus erhoffen, betonen Psychologen, wie sinnvoll diese lange Auszeit ist: Die Kinder könnten sich wirklich erholen von dem Schuljahr, neue Freunde finden und in der Freizeit andere wichtige Dinge lernen.

Immer mehr Franzosen können sich aber mit Peillons Vorstoß anfreunden. Nach Umfragen sind 43 Prozent den Verkürzungsplänen zugeneigt – vor allem die Eltern. Sie haben natürlich nicht so viel Urlaub. Viele können meist nur zwei Wochen mit den Kindern wegfahren – manche wegen der Wirtschaftskrise gar nicht. Sie haben damit zu kämpfen, ihre Kinder acht Wochen unterzubringen oder zu beschäftigen. Glück haben die Mütter und Väter, die ihre Kinder bei Oma und Opa abgeben können. Oder die so viel Geld haben, um die Kleinen in ein Feriencamp zu schicken.

Damit die kleinen das Gelernte nicht vergessen: cahiers de vacances. Den Markt dafür dominieren die Verlage Hachette, Nathan und Hatier.

Damit die Kleinen das Gelernte nicht vergessen: cahiers de vacances. Den Markt dafür dominieren die Verlage Hachette, Nathan und Hatier.

Peillon will für die Sommerferien auch zwei Zeitzonen einführen, damit nicht alle gleichzeitig die Autobahnen verstopfen – bisher beginnen die Sommerferien für alle zur gleichen Zeit. Den Zonenvorschlag finden manche Tourismusveranstalter gut, denn so könnte man die Massen besser auf Hotels und Ferienwohnungen verteilen.

Von der langen Auszeit profitieren übrigens in Frankreich einige Verlage: Viele Eltern kaufen ihren Kindern Aufgabenhefte, die „Cahiers de vacances“. Darin können die Kinder Übungen machen, um den Lernstoff des vergangenen Jahres zu wiederholen. Die Hefte sind ein Renner: Sechs Millionen solcher Hefte werden jährlich verkauft.