Paris-Tipp: Schöne Knochen

Gleich am Eingang bekommt man erst mal einen Schreck. Dutzende Skelette schauen einen an: von einem Seelöwen, einem Panda, einem Okapi. Eine 80 Meter lange Museumshalle voller toller Tiere. Allerdings nur ihre Knochen.

Schüler sitzen auf dem Boden und machen Skizzen von den Skeletten in ihre Zeichenblöcke, ihre Lehrerin blickt ihnen gelegentlich über die Schulter. Die Galerie de Paléontologie et d’Anatomie Comparée ist Teil des nationalen Naturgeschichtlichen Museums im Jardin des Plantes, dem bei den Parisern so beliebten Park neben dem Bahnhof Gare d´Austerlitz.

Die einen sammeln Briefmarken, andere Skelette.

Generationen von Franzosen staunten bereits über diese außergewöhnliche Wirbeltier-Sammlung von Fleisch- und Pflanzenfressern. Ein fünfjähriger Orang-Utan mit großer Zahnlücke, mehrere Schimpansen und Gorillas schauen die Besucher an mit ihren tiefen Augenhöhlen. Vitrinen sind voller Hundeschädel oder Gebisse von Bären. Fragile, zarte Skelette von Vögeln und Fröschen sind hier ausgestellt und nur wenige Meter weiter die kräftigen Knochen eines Elefanten aus Asien oder eines Wal-Skeletts. Auch wenn man eigentlich nur Knochen sieht: Man hat dennoch das ganze Tier vor Augen.

Bis zu 1000 Skelette, Eier und Organe sind hier im Erdgeschoss ausgestellt. Einer Riesenschildkröte kann man durch ihr Skelett auf ihr Panzerinneres sehen, und der Alligator vom Mississippi verliert auch nicht in abgespeckter Form seine Kraft, einem Angst einzuflößen.

Gruselig wird es bei den Vitrinen mit den Python- und Wildschweinherzen oder Lama- und Tiger-Lebern. Und es geht noch morbider: Gläser mit konservierten Gehirnen, Mägen und Zungen. Bei der Vitrine mit der Überschrift „monstres“ mit den Tier-Missgeburten drückt man auch mal gerne die Augen zu.

Der aufrechte Gang war bei diesen Exemplaren noch nicht angesagt.

Es ist das perfekte Museum für Regentage, wenn man den Touristenmassen im Louvre oder Musée d´Orsay aus dem Weg gehen will. In dieser Sammlung der vergleichenden Anatomie gehen die Pariser auch gerne mit ihren (freilich nicht zu jungen) Kindern, die dann meist völlig fasziniert sind. Nicht nur, weil sie hier das Skelett des Rhinozeros von Ludwig XV. anschauen können. Sondern weil im ersten Stock bei den Wirbeltier-Fossilien auch Skelette von Dinosauriern stehen.

Wer hier über das knarzende Parkett läuft, der ahnt: Eigentlich ist das Museum selbst reif für ein Museum. Nicht nur weil es bereits 1898 eröffnet wurde. Sondern weil es aus einem Jahrhundert stammt, wo man noch glaubte, alles in der Natur sammeln, mit Schreibmaschine und Zettelchen beschriften und somit die gesamte Tierwelt klassifizieren und bändigen zu können. Der Gang in dieses Museum ist eine Zeitreise – kein Wunder, dass es gerne genutzt wird für Film- und Interviewdrehs.

Fossilienfans werden jauchzen vor Glück, da die beiden oberen Stockwerke voll damit sind. Wer nach dem Besuch merkt, dass ihm die Skelette aufs Gemüt schlagen, der muss nur wenige Meter gehen zur anderen Seite des Jardin des Plantes: In die Manège, dem hübschen kleinen Zoo mit lebendigen Tieren.

Knochen, die auch Kinder begeistern.

Adresse: 2, rue Buffon, Metro: Gare d´Austerlitz

http://www.mnhn.fr/fr/visitez/lieux/galerie-paleontologie-anatomie-comparee

Warten auf die Supermetro

Eine provisorische blaue Metallbrücke führt über Bahngleise und eine große Baustelle. Manche Reisende bleiben stehen und blicken in die Tiefe. Auch Jean Delaroche beobachtet die Arbeiten für die neue Metro in seinem Ort Clamart bei Paris: das betonierte neue Gleisbett, auf Gerüsten liegende Stahlträger, die Bagger, die Erdreich wegschaufeln. „Die neue Metro wird unsere Pariser Vorstadt ein bisschen aus der Isolation befreien“, sagt der Rentner.

Der Vorort Clamart liegt wenige Kilometer südlich von Paris. Die neue Pariser Supermetro 15 soll hier vorbeiführen. Arbeiter legen Fundamente für einen neuen Bahnhof, an dem sich Metro und Vorortbahn kreuzen und täglich 50.000 Menschen ein- und aussteigen werden. „Als mein Sohn für sein Studium in den westlichen Pariser Vorort Noisy-Champs wollte, brauchte er von hier aus zwei Stunden“, erinnert sich Delaroche. „Mit dieser neuen Ring-Linie wird die Fahrt nur noch 30 Minuten dauern.“

Die Baustelle in Clamart ist Teil des größten stadtplanerischen Bauprojekts Frankreichs: Paris baut am „Grand Paris“ (Groß-Paris). Die Stadt will sich fit machen für die Zukunft, sich stärker als Großraum definieren, mit den Vorstädten stärker zusammenwachsen und das Nahverkehrsnetz den enormen Anforderungen anpassen.

Sie wird bereits groß angekündigt: Schilder bei Clamart

„Grand Paris Express“ ist zunächst ein großes Infrastruktur-Projekt. So soll in 15 Jahren das Metronetz fast verdoppelt werden von derzeit 220 auf 425 Kilometer. Geplant sind 18 statt bisher 14 Metrolinien sowie 68 neue Bahnhöfe. Drei bisherige Metrolinien sollen verlängert werden. Für besonderes Aufsehen sorgt dabei die Ringlinie 15: Diese regionale vollautomatische Supermetro umrundet Paris in einem Abstand von etwa fünf Kilometer. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen werden all diese neuen Linien täglich nutzen, sie bieten viele Übergangsmöglichkeiten zum bisherigen Metro-, RER-, Bus- und Tramsystem, aber auch zu TGV- und Nahverkehrsbahnhöfen.

1600 Zulieferer, 30 Architekturbüros, 15.000 Arbeitplätze auf Zeit: „Eine Baustelle von solchem Ausmaß hat es seit der Konstruktion der neuen Städte in den 1960er Jahren nicht mehr gegeben“, sagte Philippe Yvin, Präsident der Societé du Grand Paris, die für das Projekt verantwortlich ist. 200 Ingenieure, Beamte und private Experten überwachen den Kauf der 3000 Flächen, auf denen die Bahnhöfe oder Tunnel entstehen. Sie organisieren Bürgerversammlungen, kontrollieren die angelaufenen Arbeiten und deren Vergabe. Außerdem wachen sie über die geplanten Kosten von Grand Paris Express in Höhe von 28 Milliarden Euro.

Der Traum von einem Grand Paris wird schon lange geträumt. Einen wichtigen Anschub bekam das Projekt durch den früheren konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy. Er kündigte 2007 einen internationalen Architektenwettbewerb an, der Ideen für den zukünftigen Ballungsraum lieferte. Denn Paris ist stark zweigeteilt. Auf der einen Seite die Innenstadt, die am dichtesten bebaute Stadt der Welt. Auf der anderen Seite die Banlieue, die mal reicheren, mal ärmeren Vororte. Zwischen ihnen verläuft wie ein Graben die städtische achtspurige Ringautobahn „Boulevard Périphérique“. Sarkozy wollte, dass Kern-Paris und die Vorstädte wieder mehr miteinander verschmelzen. Immer wieder gab es Rückschläge und Anpassungen des Projekts. Seit dem vergangenen Jahr schürfen nun die Tunnelbohrer und lärmen die Abrissbagger. Grand Paris Express wird Wirklichkeit.

Paris investiert in seine Attraktivität. Im zentralistischen Frankreich ist der Ballungsraum mit seinen 12 Millionen Einwohnern (Kernstadt: 2,3 Millionen Einwohner) das bedeutendste Wirtschaftszentrum Frankreichs. In der Region Île de France werden 31 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet, 944.000 Firmen sind hier vor Ort. Die meisten französischen Fernstraßen und Eisenbahnlinien starten oder enden in Paris. Konzerne und Mittelständler schätzen nicht nur die Nähe zu Wirtschaft und Politik, sondern auch die gute Erreichbarkeit in Europa, die beiden größten Flughäfen Frankreichs, gute Logistik-Möglichkeiten und nicht zuletzt auch die Metropole als Forschungsstandort. Doch Einwohner und Unternehmer klagen auch über Nachteile: etwa über überlastete S-Bahn- und Metro-Strecken, staugeplagte Autobahnen und lange Fahrtzeiten. Denn Paris hat ein großes Problem: Um mit der Metro und S-Bahn von einem Vorort in einen anderen zu gelangen, muss man fast immer erst einmal nach Paris hineinfahren. Die gigantische Baustelle sei ein deutlicher Schritt in eine neue Richtung, sagt Marcus Knupp von der Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing Deutschlands (GTAI). „Man verbindet jetzt nicht mehr nur die Vororte mit dem Pariser Zentrum, sondern die Vororte untereinander.“ Die Banlieue soll stärker ein Teil von Paris werden.

Metro-Baustelle: Oben ein provisorischer Fußgängerübergang, unten der Tunnel im Bau

Die Stadtplaner setzen dabei stark auf die Strahlkraft der neu entstehenden Bahnhöfe. Die Metro-Bahnhöfe sollen bisher eher verlassene Vorstadtareale plötzlich interessant machen. Ein Bauboom setzt ein: So sollen zum Beispiel über dem Bahnhof Clamart rund 100 Wohnungen, Geschäfte und Coworking-Büros entstehen. Auf einigen Brachen oder Feldern im Norden sind Wohn-, Freizeit-, Dienstleistungs- und Einkaufsviertel geplant. Bis 2030 sollen insgesamt 250.000 neue Wohnungen entstehen. Die Societé du Grand Paris rechnet damit, dass die neuen Wohnungen den Pariser Wohnungsmarkt entspannen werden und zweimal preiswerter sind als vergleichbare Appartements im Zentrum.

Grand Paris Express ist aber noch mehr als nur ein Immobilien- und Nahverkehrs-Schub für Frankreichs Metropole: eine Verwaltungsreform. Im Januar 2016 haben sich 131 Kommunen mit Paris zusammengeschlossen zum Verbund Métropole du Grand Paris (MGP). Sie wollen Entscheidungen beim Wohnungsbau, Umweltschutz oder bei der wirtschaftlichen Entwicklung besser koordinieren – das betrifft immerhin 7,5 Millionen Einwohner des Großraums.

Bis alle neuen Strecken in Betrieb gehen, vergehen fast 15 Jahre. Als letzte wird die zukünftige Metrolinie 18 im Südwesten der Stadt fertig werden. Sie soll unter anderem das künftige französische Silicon Valley besser an andere Umlandstädte, die RER und an den Flughafen Orly anbinden. Denn das Grand Paris will sich auch als Forschungsstandort mehr ins Bewusstsein rücken. Im Gebiet von Paris-Saclay im Südwesten entsteht ein Wissenschaftscluster für technische Innovation mit insgesamt 19 technischen Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Universitäten, was gerade auch für forschungsinteressierte High-tech-Unternehmen interessant sein könnte. Die Universität wurde 2014 gegründet, Frankreich will sie zu einer der 20 weltweit führenden Elite-Universitäten machen. Ob Luftfahrt- und Verteidigungstechnik, Energie, Informations- und Kommunikationstechnologie: Zahlreiche Unternehmen sind schon vor Ort, während die Metro noch auf sich warten lässt.

Ja, aber das wird noch dauern.

Grand Paris Express

Bisher gibt es in Paris 14 Metrolinien. Jetzt werden für das Projekt „Grand Paris Express“ vier neue Strecken für eine „vollautomatische regionale Supermetro“ gebaut (15, 16, 17 und 18). Zudem werden die bereits existierenden Linien 11, 12 und 14 wie auch die S-Bahn-Linie RER E verlängert. So wird zum Beispiel die schnelle bereits jetzt fahrerlose Linie 14 vom Bahnhof St. Lazare nicht mehr wie bisher im Pariser Chinatown enden, sondern am Flughafen Orly im Süden von Paris. Am spektakulärsten wird die komplett unterirdische Linie 15 sein, die auf 75 Kilometern Länge ringförmig um Paris herumführen und auch das Büroviertel La Défense anfahren wird. In den Stoßzeiten soll die vollautomatische Bahn im Zweiminutentakt fahren. Der südliche Teil der 15 soll als erste der neuen Strecken 2022 in Betrieb gehen. Die geplante Linie 17 wird im Norden die Flughäfen Le Bourget und Charles de Gaulle und das Messezentrum Parc des Expositions miteinander verbinden. Und im Südwesten entsteht bis 2030 die Linie 18 von Nanterre über Versailles bis zum Flughafen Orly. Hier kann man einen Plan mit den zukünftigen Strecken anschauen:

https://www.societedugrandparis.fr/projet/la-carte-du-projet

 

Der Engel aus der Loge

Jemand hat Werbeprospekte in den Eingang zum Innenhof gelegt. Natalia Syed hebt sie auf und wirft sie in eine der grünen Mülltonnen. Sie schaut durch das schwere Eisengitter auf die Rue Oberkampf. Der Zeitungsausträger grüßt, sie nimmt ein Exemplar von „Le Monde“ entgegen für einen Bewohner im Haus.

Natalia Syed ist Concierge in Paris. Mit der Zeitung in der Hand geht sie zurück zu ihrer Loge, so nennt man in Frankreich die Wohnungen der Hausmeister. Ihre liegt im Erdgeschoss am Fuße des u-förmigen Gebäudes, für das sie zuständig ist.

„Kaum einer nennt mich noch Concierge“, sagt sie. Diese ältere Bezeichnung weckt bei den Franzosen das Bild einer strengen, überwachenden, neugierigen, ruppigen Dame aus dem vergangenen Jahrhundert, wie sie in vielen Filmen und Romanen vorkommt. Natalia Syeds Beruf trägt heute offiziell den Namen „Gardien“. Dass sie ihn einmal ausüben würde, hätte sie nie gedacht – obwohl ihre Mutter auch eine Gardienne ist.

Natalia Syed bei der Arbeit. Alle Fotos: Raphael Zubler, Zürich, http://www.raphaelzubler.com

„Ursprünglich wollte ich in der Modebranche arbeiten“, sagt die 39-Jährige, deren Eltern aus Portugal stammen. Doch nach ihrem Modestudium merkte sie beim Arbeiten im luxuriösen Prêt-à-porter-Geschäft, dass diese Glitzerwelt nichts für sie ist. „Unfreundliche Chefs, Arbeitszeiten ohne Ende.“ Als ihre Cousine hier im 11. Arrondissement von Paris aufhörte, als Concierge zu arbeiten, übernahm Natalia die Stelle samt Loge. Sie wollte das dann eigentlich nur drei Jahre lang machen. Heute lebt Natalia schon seit 17 Jahren mit ihrem pakistanisch-stämmigen Mann und ihren drei Kindern (19, 12 und 8 Jahre alt) eng gedrängt auf 30 Quadratmetern.

„Haben Sie ein Paket für mich?“, fragt ein Mitarbeiter eines Büros aus dem Haus. Natalia Syed geht in ihr kleines Wohnzimmer, wo im Fernsehen eine Intrigen-Serie läuft, und holt es. Päckchen annehmen, Post verteilen, Treppen putzen, den Innenhof kehren, Mülltonnen rausstellen, Glühbirnen wechseln: Das ist ihr Alltag. Sie ruft Handwerker, wenn es in einem Appartement Probleme gibt. Und sie macht auch Dinge, die eigentlich nicht in ihrem Vertrag stehen: Blumen gießen, wenn jemand im Urlaub ist. Bei Senioren an die Tür klopfen, wenn sie diese längere Zeit nicht gesehen hat. Ersatzschlüssel aufbewahren für den Fall, dass sich jemand raussperrt. Streit schlichten, wenn sich zwei Parteien angiften. Manche kommen auch zu ihr, weil sie ihr einfach ihr Herz ausschütten wollen. Sie sei Putzfrau, Hausmeisterin, Psychologin, sagt Syed. „Und Vermittlerin, ich kümmere mich um das soziale Miteinander.“ Für 1000 Euro netto plus Loge.

Und Natalia wacht, am Tag und in der Nacht. Einbrecher haben es hier schwer. An der Loge kommt jeder vorbei, der ein oder ausgeht. Als Vollzeit-Concierge muss sie von 7 bis 12 und von 16 bis 19 Uhr zur Verfügung stehen. Und nachts hier schlafen. Sie sei Gardienne auch im Schlaf, sagt sie. „Ich habe die Augen geschlossen, aber die Ohren offen.“ Sie kennt Kolleginnen, die stets am Fenster hängen würden und alles mitkriegen wollen, was im Hof geredet wird. „Das ist doch ein bisschen krankhaft, das ist wie bei den Concierges vor 30 Jahren, so bin ich nicht.“

Sie hat schon Diebe vertrieben, zwei Selbstmordversuche von Mieterinnen erlebt, eine tote Seniorin aufgefunden. Und Herz gezeigt gegenüber Obdachlosen. Als der Winter so bitterkalt war vor drei Jahren, wollte einer im Kellereingang schlafen. „Ich durfte ihm das nicht erlauben, aber ich gab ihm etwas Warmes zu essen und zu trinken.“ Syed ließ ihn neben den Mülltonnen schlafen bis zum Morgen. Solange das kein Besitzer sehe, ginge das schon mal.

Wohnen im Hinterhof: die Loge von Natalia Syed und ihrer Familie

70 Parteien wohnen in dem Gebäude mit der Klinkerfassade, fast alle sind Wohnungsbesitzer. 70 Parteien, das sind auch 70 Chefs. „Die meisten sind sehr nett“, sagt Natalia Syed, aber es gebe immer jemanden, der von oben auf sie herabsehe. Der sagt: Concierge? Die braucht man doch nicht.

Lange Zeit dachten viele Eigentümer so. Fast 30.000 Concierge-Stellen wurden in Frankreich in den vergangenen drei Jahrzehnten gestrichen, 52.000 gibt es noch. Es stand nicht gut um die Zukunft des Berufs. Denn die Eigentümer zogen es vor, Logen zu verkaufen oder zu vermieten, wenn die Concierge in Rente ging, oder einfach einen Fahrrad-Abstellraum daraus zu machen. Ein Zahlencode an der Haustür, eine Videokamera für die Überwachung und externe Reinigungsfirmen ersetzten die Concierge. Das ist billiger.

Inzwischen bereuen das viele. Nicht nur, weil eine Concierge einem oft Gefallen tut und für gute Atmosphäre sorgt. „Viele Bewohner fühlen sich sicherer, wenn sie wissen, da hat jemand ein Auge auf alles“, sagt Philippe Dolci von der nationalen Hausmeistergewerkschaft Snigic. Gerade in diesen Zeiten der Anschlagsgefahr und des Ausnahmezustands im Land. Viele Eigentümer in Luxusgebäuden wollen gerne ihre Concierge wieder, aber oft ist es zu spät. „Ist die Loge erst einmal verkauft oder vermietet, ist das selten möglich.“

Natalia Syed und ihr Sohn in der Loge

Hatte es bisher Tradition in Paris, dass vor allem zugewanderte Portugiesen diese Jobs übernahmen, interessieren sich in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit auch immer mehr Franzosen für einen Gardien-Job. „Concierge wird man nicht unbedingt, weil man diesen Beruf schon immer machen wollte“, sagt Dolci. „Sondern weil man arbeitslos ist, eine Wohnung braucht oder es die eigene Mutter schon gemacht hat.“ Für viele Concierges – zwei Drittel sind Frauen – ist der Beruf sehr stressig. „Schon allein deshalb, weil man ständig dort lebt, wo man arbeitet.“

Wie wichtig die Präsenz einer Concierge in Sachen Sicherheit sein kann, zeigte die Terrornacht vom 13. November 2015 in Paris. Damals hatten mehrere Gardiennes ihre Innenhöfe geöffnet, damit sich Anschlagsopfer und Verängstigte dorthin flüchten konnten. Auch Natalia. Ihr Wohnblock liegt direkt neben dem Konzerthaus Bataclan, wo drei Attentäter 90 Menschen töteten und Hunderte verletzten.

„An jenem Abend wollte ich mit meiner Familie eigentlich in die Bar des Bataclan, um dort Fußball zu schauen“, sagt sie. Das Konzert der US-Band Eagels of Death Metal mit 1500 Besuchern lief schon. Ihre Tochter brauchte mal wieder mehr Zeit zum Schminken, während Natalia vor dem Haus wartete. Plötzlich hörten sie Knallgeräusche. „Da die Rue Oberkampf ja eine beliebte Ausgehstraße ist, dachte ich erst, es sind Knallkörper“. Doch es waren Schüsse.

Sie sah Menschen aus der Richtung des Bataclan durch die Straßen rennen, dann Einsatzfahrzeuge heranrasen. Sanitäter fragten, ob sie ihren Innenhof nutzen könnten. Kaum hatte sie das Eisengitter geöffnet, flüchteten sich Leicht- und Schwerverletzte hinein, manche blutüberströmt. Zeitweise bis zu 80 Menschen fanden im Hof Zuflucht, sagt Natalia. Irgendwann mussten sie das Eisentor schließen, weil es zu voll wurde. Sogar in ihre eigene kleine Wohnung brachte Familie Syed die Verletzten. Vor allem die, die völlig panisch waren oder unter Schock standen, „damit sie den Horror im Hof nicht anschauen mussten. Hier konnten sie sich ein bisschen sicherer fühlen“. Auf ihrem Sofa lag ein Polizist einer Eliteeinheit. Ihm fehlte ein Finger.

Wichtig im Alltag einer Concierge: les clés.

Der Innenhof, normalerweise ein Ort der Ruhe, war bis drei Uhr morgens die Hölle. „Ein Kriegslazarett, wo Ärzte Not-Operationen machten.“ Die Wände sind sehr hoch, die lauten Schreie der Verletzten hallten wider. Natalia, ihr Mann und ihre beiden älteren Kinder halfen zusammen mit Nachbarn, so gut es ging. Sie beruhigten Verletzte, sagten den Sanitätern, um wen es besonders schlimm stand, gaben den Opfern Wasser. Drückten Kissen, T-Shirts, Verbandsmaterial auf stark blutende Schusswunden. „Wissen Sie, Verletzungen durch Kalaschnikow-Schüsse sind sehr schlimm“, sagt Syed. Im Haus wohnt ein Ärztepaar, Natalia Syed rief an und bat, erste Hilfe zu leisten. „Die Ärztin war – obwohl sie in einem Krankenhaus arbeitet – so geschockt von dem, was hier passierte, dass sie nicht weiterarbeiten konnte und zurück in ihre Wohnung ging.“

Morgens um halb fünf, als der Hof wieder menschenleer war, fing Natalia bereits das Putzen an. Entfernte das viele Blut, die Spritzen. Sammelte Personalausweise, Konzertkarten, Geldbeutel ein, die die Opfer verloren hatten. Die meisten Kinder im Haus hätten von den Ereignissen der Nacht doch nichts mitbekommen, sagt Natalia. „Ich wollte, dass sie sich nicht beunruhigen am Morgen, wenn sie aus dem Haus gehen.“

Wenn Natalia von diesem furchtbaren Terror-Abend erzählt, wirkt sie ruhig, klar, gefasst, wie eine nüchterne Beobachterin. Normalerweise sei sie keine starke Frau, sagt sie. Aber an diesem Abend sei das wie ein Reflex gewesen, ihr war sofort klar: Sie muss helfen. Funktionieren, damit Menschen überleben. Wie verarbeitet man das, diese Bilder, das Wissen, dass in diesem Hof Menschen starben? „Meine Therapie ist, darüber zu sprechen“, sagt sie. Und ihre Kinder? Der Achtjährige hat geschlafen und nichts mitbekommen von dem Grauen wenige Meter entfernt. Die Großen, die mithalfen, hätten es scheinbar gut verkraftet, glaubte sie zunächst.

Neben den Keksen die Auszeichnungen für die mutige Gardienne

Doch dann kam der erste Jahrestag im vergangenen November. Die Syeds wurden eingeladen zu einem Treffen der Terror-Opfer und deren Familien. Zwei Opfer, die im Hof Schutz gefunden hatten, haben bei dem Treffen ihre 19-jährige Tochter wiedererkannt und mit ihr gesprochen. Danach ist sie zusammengebrochen und hat den ganzen Tag geweint.

Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat mehrere Concierges für ihren Einsatz als Anges-Gardiens, Engels-Hausmeister, bezeichnet und sie für ihre Hilfe ausgezeichnet – auch Natalia. Die zeigt ihre Medaille mit der Aufschrift „Sie schwankt, aber geht nicht unter“, dem Motto der Stadt Paris. Ihr Berufsstand sei dadurch geehrt worden, sagt sie. „Doch solches Metall ist mir recht egal“, sagt sie, „aber ich freue mich, wenn gelegentlich ein Opfer von damals bei mir vorbeikommt und sagt, dass es ihm wieder gut geht.“

Etwa die beiden Mädchen aus Lyon, die Natalia in einem TV-Beitrag wiedererkannten und zu ihr fuhren, um danke zu sagen. Oder Julien und Jerôme. Natalia holt einen kleines Stück Karton hervor, den am Jahrestag des Anschlags die beiden jungen Männer an ihre Tür steckten, weil sie nicht zuhause war. Darauf bedankt sich Julien, dass Natalia seinem Freund Zuflucht gewährt hat. Und Jerôme schreibt: „Das Leben ist mal mehr, mal weniger schön, aber das Leben ist da. Keep dreaming and loving.“

Nicht alles, aber vieles ist anders geworden für die Syeds seit dem 13. November 2015. Sie sei wachsamer geworden, sagt Natalia. Die Stadt Paris bietet den Gardiens inzwischen Erste-Hilfe-Kurse an – mit Blick auf zukünftige Anschläge. Das Attentat habe ihr die Augen geöffnet. Sie habe gelernt, bewusster zu leben, das Leben mehr zu genießen, „es kann von einem Tag auf den anderen komplett zusammenbrechen und anders sein“. Sie sei auch politischer geworden, sagt sie. Bei den französischen Präsidentschaftswahlen ging  sie das erste Mal wählen, denn Marine Le Pen vom rechtspopulistischen Front National mache ihr Angst. Sie wolle auch ihre Kinder politischer erziehen. Sie achte mehr darauf, was sie im Internet anschauten, welche Computerspiele sie spielten.

Nur wenige Schritte von Natalia Syeds Zuhause, gegenüber vom Bataclan: eine Gedenktafel. Inzwischen ist sie ersetzt worden.

Ihr Einsatz hat ihr viel Lob eingebracht – aber auch Anfeindungen. Sie ist Katholikin, ihr Mann Gabriel Muslim. Er kennt die misstrauischen Blicke ihm gegenüber schon seit den Anschlägen auf die Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt im Januar 2015. Nach dem Terror vom November habe das noch einmal zugenommen, sagt sie, dieser Generalverdacht gegenüber Muslimen. Nachdem Natalia in einem TV-Beitrag gewesen war, hat sie ein älteres Paar auf dem Gehweg angesprochen. „Toll, was Sie gemacht haben“, sagte die Dame. „Aber warum sind Sie denn als Katholikin mit einem Muslim verheiratet? Verlassen Sie ihn, bevor es zu spät ist. Muslime sind alle gleich.“

Natalia Syed war schockiert. Genauso über radikale Muslime, die sie kritisierten, weil sie gesagt hatte, die Attentäter seien keine Muslime, sondern Barbaren. „Solche Leute machen mir Angst.“ Plötzlich habe ihre Familie das Gefühl gehabt, vorsichtig sein zu müssen, was sie sage. Dabei sei Paris für sie immer eine kosmopolite Stadt gewesen, die zeige, wie das Zusammenleben der Menschen verschiedener Herkunft und Religionen funktioniere – trotz mancher Schwierigkeiten. Ihre eigene Ehe sei ein bestes Beispiel dafür. Um ein Zeichen zu setzen, half sie mit, eine interreligiöse Veranstaltung auf der Place de la République zu organisieren.

Es klopft, wieder will jemand bei Natalia ein Paket abholen. Sie steht auf vom Sofa, auf dem neuerdings eine weiße Decke liegt, um die hartnäckigen Blutflecken vom 13. November zu verbergen. Dann sagt sie noch: „Jeder sollte jeden Tag ein klein wenig tun für das gute Miteinander. Wir müssen stärker sein als dieser Hass.“

Ich danke dem Zürcher Fotografen Raphael Zubler für die Fotos. http://www.raphaelzubler.com

Paris-Tipp: Kuchen bei La Bossue

Das Leben ist zu kurz, um keinen Kuchen zu essen. Nur essen die Franzosen ihn oft als Nachtisch zum Mittag- oder Abendessen und nicht wie wir Deutschen gerne gegen drei oder vier Uhr am hellerlichten Nachmittag. Kaffeekränzchen in Paris, das geht zwar, man muss nur wissen, wo.

Neulich sah ich in der blauen Stunde auf dem Montmartre durch ein Schaufenster in ein angenehm erleuchtetes Café. Ich ging näher ran, und entdeckte im Innern einen Tresen voller Rührkuchen, Madeleines, Financiers, Scones, und eine Art doppelte Ischler Törtchen mit zwei Löchern, „lunettes“ genannt.

Am Ende eines langen Nachmittags sind die Kuchen kürzer geworden (ich bekenne mich mitschuldig).

Am Ende eines langen Nachmittags sind die Kuchen kürzer geworden (ich bekenne mich mitschuldig).

„La Bossue“ heißt diese Pâtisserie, und das warme Licht lockte mich gleich ins Innere. Ein schmaler Vintage-Teesalon, runde Marmortische und ein länglicher Holztisch, alte Holzstühle und mit Fell überzogene kleine Hocker. Spiegel aus dem vergangenen Jahrhundert an den Wänden und Blumenampeln an der Decke, alte Schwarzweiß-Familienfotos, grüne Tapete mit Baummuster. Hier soll es sein wie bei Oma. Diese Retro-Orte lieben die Franzosen ja sehr. Wohl gerade auch in dieser Zeit, in der die Globalisierung – die le Nachbar „mondialisation“ nennt – es ihrer Wirtschaft schwer zu schaffen macht. Freundinnen führen hier Mädchengespräche, Väter spendieren am späten Nachmittag ihren Kindern das berühmte französische „goûter“, eben einen kleinen Kuchen, damit die Kleinen durchhalten bis zum Abendessen.

Viele Plätze gibt es hier nicht. Vorne am Tresen wird nach dem Eintreten erst mal Halt gemacht, gesichtet, was heute vernaschbar ist, und man wartet, dass man gesetzt wird. (Manche Besucher lassen sich Kuchen auch zum Mitnehmen einpacken.) Im hinteren Teil ist seitlich die Backstube, in der die junge Besitzerin Caroline gerade den Rührteig für einen Schokokuchen in eine Form streicht. „La bossue“ bedeutet die Bucklige. Dieses Oma-Kaffee mit großer Teeauswahl führt aber keine Oma, sondern eben zwei junge Franzosen, die auf saisonale und lokale Zutaten Wert legen.

Welcher Kuchen heute verdrückt werden kann, hänge von der Jahreszeit, vom Wetter und davon ab, wie die Sterne stünden, steht in der Karte. Das zeigt: Wer Kuchen liebt, hat auch Humor. Und wer Humor hat, der schneidet einem auch ein ordentliches Stück ab. Mein saftiges Pamplemousse-Kuchenstück ist fast fünf Zentimeter breit. 3 Euro dafür und für den Darjeeling 4,50 Euro, heissa, für den Montmarte sind das Preise, wo man sich doch gleich noch ein Stück am Tresen zu erbitten traut.

Am Ende der Rue des Abesses auf dem Montmartre: La Bossue

Am Ende der Rue des Abesses auf dem Montmartre: La Bossue

Hier verkehren Pariser. Denn die Touristen, die das Viertel ja gerne überrennen, biegen schon an der Kreuzung vorher ab, um in der Rue Lepic ins „Café des Deux Moulins“ zu stürmen, das durch den Amélie-Poulain-Film große Berühmtheit erlangte. Im Bossue dagegen wollen die Einheimischen Oma-Wärme tanken. Schon zum Frühstück, oder mittags bei Salaten, Quiches, Croque-Monsieurs oder Suppen. Am Wochenende drängt man sich hier zum Brunch, vor 15 Uhr kriegt man deswegen keinen Platz.

La Bossue, pâtisserie-comptoir

Mittwoch bis Freitag 8.30-19 Uhr, Samstag und Sonntag 10.30-19 Uhr

9, rue Joseph de Maistre, 75018 Paris, Metro: Blanche, Abesses

www.labossue.com, https://www.facebook.com/labossue/