Die Wiedereröffnung

Kartons voller Fruchtsäfte, Milch, ungesäuertem Brot, Sonnenblumenöl. Der halbe Gehsteig steht voller Paletten mit koscheren Lebensmitteln. Und schon wieder kommt ein Laster mit einer Lieferung. Drei Männer manövrieren eine Palette voller Eier vorbei in den Supermarkt Hyper Cacher. Zwei Polizisten mit Maschinengewehren an der Eingangstür schauen ihnen dabei zu und versuchen, nicht im Weg zu stehen.

Drinnen herrscht Gedränge. Mitarbeiter räumen die Lebensmittel in die neuen Regale. Platt getretene Kartons und Schutzfolie liegen auf den Böden. Dazwischen schieben Kunden ihren Einkaufswägen durch die engen Gänge. „Die Stammkundschaft kehrt wieder“, sagt der Filialleiter des Hyper Cacher, den hier alle nur Pedro nennen. Seit der Wiedereröffnung ist der Supermarkt gut besucht. „Das ist ein gutes Zeichen. Wir kehren langsam zur Normalität zurück“, sagt Pedro.

Normalität. Jeder hier wünscht sie sich. Doch jeder weiß, dass diesem Supermarkt die Normalität genommen wurde. Am 9. Januar hatte der islamistische Terrorist Amedy Coulibaly im Hyper Cacher an der Porte de Vincennes vier Franzosen jüdischen Glaubens erschossen: Yohan Cohen (20), der dort arbeitete. Yoav Hattab (21), François-Michel Saada (63) und Philippe Braham (45). Der Terrorist nahm Geiseln, bis eine Spezialeinheit den Supermarkt stürmte. Einige Kunden konnte sich in einem Kühlraum verstecken, darunter eine Mutter mit ihrem Baby. Die Welt sah zu und war geschockt.

Ein Polizist patrouilliert vor dem koscheren Supermarkt Hyper Cacher.

Ein Polizist mit schusssicherer Weste patrouilliert vor dem koscheren Supermarkt Hyper Cacher.

Fast drei Monate danach piepen an diesem Ort wieder die Scanner der Kassen. Fragen Kunden, wo der Kaffee steht. Öffnet sich die neue Schiebeglastür – die alte war von Maschinenpistolenkugeln durchsiebt. Ein Werkzeugkasten steht auf dem Boden, eine Bohrmaschine liegt umher. Handwerker ziehen Kabel an der Decke entlang: Sie arbeiten noch an der Alarmanlage und der Videoüberwachung.

„Wir versuchen, hier einigermaßen normal zu arbeiten“, sagt Mitarbeiterin Nathalie Touitou (47) und räumt dabei Honiggläser ins Regal. Touitou gehört zum neuen elfköpfigen Mitarbeiterteam. Denn die früheren Angestellten sind noch krank geschrieben, sind traumatisiert, „viele haben große Schwierigkeiten, wieder in ihr Leben zurückzufinden“. Manche von ihnen können keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen, weil sie auf Unbekannte panisch reagieren und Angst haben, dass plötzlich jemand erneut losschießen könnte.

Touitou war sich zuerst unsicher, ob sie die Stelle annehmen will. Bereits früher hatte sie drei Jahre lang in diesem Hyper Cacher gearbeitet, dann eine Pause gemacht. Jetzt nahm sie den Job wieder an. Touitou sagt Sätze, die in diesen Tagen viele hier sagen: Wir müssen zusammen stehen. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir müssen unsere jüdischen Traditionen bewahren. Die Terroristen haben nicht gewonnen. Sie selbst kannte eines der Opfer, den jungen Kassierer Yohan Cohen. „Vielen Kunden fällt es schwer, hierher zu kommen“, sagt sie, „manche haben Tränen in den Augen, wenn sie hier einkaufen.“ Auch Muslime und Christen – teils aus anderen Vororten oder aus Paris – machten in den vergangenen Tagen aus Solidarität hier Einkäufe.

Nathalie Touitou beim Einräumen der Regale

Nathalie Touitou beim Einräumen der Regale

Nathalie Touitou sagt, dass seit den Pariser Anschlägen in vielen jüdischen Familien hier im Pariser Osten die Alya Thema ist, das Auswandern von Juden nach Israel. Doch sie will hier bleiben, obwohl sie Angehörige in Israel hat, die sie gerne aufnehmen würden. „Ich bin hier aufgewachsen, bin Französin, habe meine Brüder und Schwestern hier. Ich mache in Israel gerne Urlaub, aber leben will ich hier.“

Für die vielen Franzosen jüdischen Glaubens in den östlichen Pariser Vororten Vincennes und Saint-Mandé ist der koschere Supermarkt sehr wichtig. Die Wiedereröffnung der Filiale hätte niemals in Frage gestanden, sagte Laurent Mimoun, einer der Chefs der Hyper-Cacher-Kette, die in Paris elf Geschäfte hat. In einer Pressemitteilung schrieb das Unternehmen, dass man an alle Opfer und deren Angehörigen denke. Mit dieser Wiedereröffnung wolle man ein Zeichen setzten, dass das Leben immer stärker sei als die Barbarei. Auch die Regierung will diese Botschaft vermitteln. Der erste Kunde bei der Wiedereröffnung war Innenminister Bernard Cazeneuve. Er kaufte zwei Flaschen koscheren Wein, lobt den Mut der Geschäftsführung zur Wiedereröffnung und das damit verbundene Signal, dass man entschlossen sei, weiterhin in Freiheit in diesem Land zu leben.

Der Laden, stark zerstört durch die Geiselnahme und die Erstürmung durch ein Spezialkommando, wurde komplett renoviert. Neue Regale, anders aufgestellt. Ein neuer schwarzer Fließenboden. Die Kassen sind an der alten Stelle, aber ebenfalls anders ausgerichtet. Nachbarn boten bei den Arbeiten Hilfe an, die Handwerker arbeiteten mehr und schneller, als sie eigentlich mussten. Die Außenfassade erhielt einen neuen, helleren Anstrich und ein neues rot-blaues Hyper-Cacher-Schild. Der Ort, an dem Grausames passierte, sollte komplett anders aussehen.

Dennoch ist für viele der Gang in diesen Supermarkt kein leichter. „Mir war sehr mulmig, als ich das erste Mal wieder hier einkaufte, und gleichzeitig traurig, weil hier diese Morde passierten“, sagt Sandrine Dayan. Die Mutter dreier Kinder hat für das Mittagessen einkauft und schiebt den Kinderwagen mit ihrem fünfmonatigen Sohn Aron. „Aber es ist wichtig, hierher zurückzukommen und den Supermarkt zu unterstützen – wie alle auch Charlie Hebdo unterstützten.“

Dayan wohnt mit ihrer Familie nicht weit entfernt vom Hyper Cacher, im benachbarten Saint-Mandé, wo über 40 Prozent der Bevölkerung jüdischen Glaubens sind. Sie und ihre Familie erinnern sich nur zu gut an die beiden Anschläge vom Januar. Denn Dayans Mutter wohnt gegenüber von der Redaktion der Satirezeitung Charlie Hebdo, sie hörte die Schüsse und Schreie auf der Straße. Sandrine Dayan selbst war nur eineinhalb Stunden vor der Geiselnahme im Hyper Cacher mit ihrem kleinen Sohn selbst in diesem Supermarkt, „um so was Idiotisches wie eine Dose Ravioli zu kaufen“, sagt sie. „Das Schicksal meinte es gut mit uns.“ Ihre Mutter möchte nicht, dass sie hier einkauft – schon gar nicht mit dem Kind. Aber sie macht es trotzdem aus Solidarität. „Jeder hier weiß, dass etwas Ähnliches überall wieder passieren kann – wir sind nirgendwo völlig sicher.“

Draußen ist Wachablösung bei den Polizisten. Seit den Anschlägen erleben die Sicherheitskräfte viele freundliche Gesten, auch hier an der Porte de Vincennes. „Die Leute grüßen uns, kommen auf uns zu, sagen mir, dass meine Arbeit wichtig ist – da wird es mir warm ums Herz“, sagt einer der beiden Polizisten. Immer wieder fragen Kunden, ob sie Hunger hätten oder einen Kaffee möchten. Angst, gerade hier Patrouille schieben zu müssen, habe er nicht. Er sei aber sehr wachsam, einmal habe es hier schon eine Verhaftung gegeben, weil jemand eine israelische Fahne verbrannt hat.

Normalität sieht anders aus. Auch die Absperrgitter sorgen weiterhin für einen Sicherheitsabstand vor dem Markt. Vor ihnen liegen immer noch die vielen Blumen von der Zeit nach dem Anschlag. Sie sind längst braun und verwelkt, aber sie erinnern weiter an den 9. Januar.

Frankreich verlassen

Das „H“ der weiß-blauen Leuchtbuchstaben des Lebensmittelmarkts „Hyper Cacher“ hängt herunter, nur ein Kabel hält es. Scheiben sind von Schüssen durchsiebt.

Immer noch kommen Schaulustige zu dem koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes. Manche legen Blumen nieder, einige beten, andere zünden Kerzen an. Ein Mann macht ein Selfie. Der kalte Wind fährt in das Blumenmeer vor der Absperrung und lässt die Plastik-Einpackfolien rascheln.

Etwas weiter entfernt, an der Wand des Nachbargebäudes, lehnt Elon Cohen. Seine Augen sind vom Weinen gerötet. Cohens Cousin arbeitete in dem Supermarkt und starb als eines der vier Opfer des Anschlags. „Ich war nicht weit entfernt, als ich von der Geiselnahme erfahren habe“, sagt der 20-Jährige leise. Er kam schnell her, wartete vier Stunden auf der anderen Straßenseite und erlebte dann, wie die Polizisten den Markt stürmten. „Seither kann ich nicht mehr schlafen.“

In der Nacht wird der Leichnam seines Cousins nach Israel ausgeflogen werden. Auch Elon Cohen wird in drei Tagen Frankreich verlassen, für immer. Häufig hat er an diesen Schritt gedacht, jetzt fiel die Entscheidung ganz schnell. „Alle Juden werden Frankreich verlassen“, sagt er und schluckt. Die Familie seiner Mutter hat ein Haus in Tel Aviv, dort wird er bald leben. In Paris hat er zuletzt die Schule beendet und war zeitweise am Flughafen beschäftigt. Jetzt will er nur noch weg. „Das hier ist nicht mehr Frankreich, das ist Krieg.“

Blumen vor der Absperrung vor dem jüdischen Supermarkt

Blumen vor der Absperrung vor dem jüdischen Supermarkt

Östlich von Paris ist Auswanderung seit Tagen Dauerthema. Direkt neben dem jüdischen Supermarkt Hyper Cacher, der Ziel des Anschlags war, liegt Saint-Mandé. In den vergangenen Jahrzehnten sind viele sefardische Juden aus dem Zentrum von Paris hierher gezogen – 43 Prozent der Bewohner des 25.000-Einwohner-Städtchens sind jüdisch. Es gibt vier Synagogen, Kindergärten, ein jüdisches Kulturzentrum, viele koschere Lebensmittelläden und Restaurants. Hier lässt sich gut leben: Das Erholungsgebiet Bois de Vincennes mit seinem Schloss und Zoo liegt nebenan, die Metrolinie 1 bringt einen schnell ins Pariser Zentrum.

Sabrina Scetbon sagt den Satz, den hier viele sagen: „Es ist noch lange nicht vorbei.“ Die Sprecherin des Bürgermeisters sitzt in ihrem Büro im Rathaus, ein französisches und ein israelisches Fähnchen auf dem Schreibtisch. Viele im Ort fürchten, dass es schon bald weitergeht mit den Anschlägen. Dass die französische Polizei dafür nicht ausreichend gerüstet ist. „Diese Attentate konnten nicht zwei oder drei Täter organisieren, und jemand muss die auch finanziert haben.“ Amedy Coulibaly, der Geiselnehmer und Mörder, habe genau gewusst, dass dieser Supermarkt für alle Juden in Vincennes und Saint-Mandé eine zentrale Anlaufstelle ist, glaubt Scetbon. „Am Freitag machen wegen des bevorstehenden Schabbats dort viele ihre Einkäufe. Es war ihm klar, dass er sein Ziel nicht verfehlen würde.“

Blumen und Kerzen vor dem jüdischen Supermarkt

Ich bin Jude, ich bin Charlie, ich bin Polizist

Einigen jüdischen Geschäften in Saint-Mandé bleibt seit dem Anschlag ein Teil der Kunden weg. Für Sabrina Scetbon kein Wunder. „Ich habe nach dieser immensen Tragödie auch Angst, in ein koscheres Restaurant oder in ein Café zu gehen – aber ich zwinge mich, es trotzdem zu tun, ich will meine Angst besiegen.“

Spätestens nächste Woche will der Supermarkt Hyper Cacher wieder öffnen. Auch Sabrina Scetbon will wieder dort einkaufen, es gehe doch auch um die Arbeitsplätze der Angestellten. Doch viele ihrer Bekannten haben schon angekündigt, sich in Zukunft Lebensmittel lieber nach Hause liefern zu lassen.

Scetbon dreht ihr Handy um und zeigt auf den Aufkleber auf der Rückseite: „Je suis Charlie“. Es klinge vielleicht ein wenig zynisch, sagt sie. Und fragt dann: „Hätte es nur den Anschlag auf den jüdischen Supermarkt gegeben und nicht die Attacke auf Charlie Hebdo, hätte es dann diese große Mobilisierung gegeben? Wohl kaum.“