Frankreich verlassen

Das „H“ der weiß-blauen Leuchtbuchstaben des Lebensmittelmarkts „Hyper Cacher“ hängt herunter, nur ein Kabel hält es. Scheiben sind von Schüssen durchsiebt.

Immer noch kommen Schaulustige zu dem koscheren Supermarkt an der Porte de Vincennes. Manche legen Blumen nieder, einige beten, andere zünden Kerzen an. Ein Mann macht ein Selfie. Der kalte Wind fährt in das Blumenmeer vor der Absperrung und lässt die Plastik-Einpackfolien rascheln.

Etwas weiter entfernt, an der Wand des Nachbargebäudes, lehnt Elon Cohen. Seine Augen sind vom Weinen gerötet. Cohens Cousin arbeitete in dem Supermarkt und starb als eines der vier Opfer des Anschlags. „Ich war nicht weit entfernt, als ich von der Geiselnahme erfahren habe“, sagt der 20-Jährige leise. Er kam schnell her, wartete vier Stunden auf der anderen Straßenseite und erlebte dann, wie die Polizisten den Markt stürmten. „Seither kann ich nicht mehr schlafen.“

In der Nacht wird der Leichnam seines Cousins nach Israel ausgeflogen werden. Auch Elon Cohen wird in drei Tagen Frankreich verlassen, für immer. Häufig hat er an diesen Schritt gedacht, jetzt fiel die Entscheidung ganz schnell. „Alle Juden werden Frankreich verlassen“, sagt er und schluckt. Die Familie seiner Mutter hat ein Haus in Tel Aviv, dort wird er bald leben. In Paris hat er zuletzt die Schule beendet und war zeitweise am Flughafen beschäftigt. Jetzt will er nur noch weg. „Das hier ist nicht mehr Frankreich, das ist Krieg.“

Blumen vor der Absperrung vor dem jüdischen Supermarkt

Blumen vor der Absperrung vor dem jüdischen Supermarkt

Östlich von Paris ist Auswanderung seit Tagen Dauerthema. Direkt neben dem jüdischen Supermarkt Hyper Cacher, der Ziel des Anschlags war, liegt Saint-Mandé. In den vergangenen Jahrzehnten sind viele sefardische Juden aus dem Zentrum von Paris hierher gezogen – 43 Prozent der Bewohner des 25.000-Einwohner-Städtchens sind jüdisch. Es gibt vier Synagogen, Kindergärten, ein jüdisches Kulturzentrum, viele koschere Lebensmittelläden und Restaurants. Hier lässt sich gut leben: Das Erholungsgebiet Bois de Vincennes mit seinem Schloss und Zoo liegt nebenan, die Metrolinie 1 bringt einen schnell ins Pariser Zentrum.

Sabrina Scetbon sagt den Satz, den hier viele sagen: „Es ist noch lange nicht vorbei.“ Die Sprecherin des Bürgermeisters sitzt in ihrem Büro im Rathaus, ein französisches und ein israelisches Fähnchen auf dem Schreibtisch. Viele im Ort fürchten, dass es schon bald weitergeht mit den Anschlägen. Dass die französische Polizei dafür nicht ausreichend gerüstet ist. „Diese Attentate konnten nicht zwei oder drei Täter organisieren, und jemand muss die auch finanziert haben.“ Amedy Coulibaly, der Geiselnehmer und Mörder, habe genau gewusst, dass dieser Supermarkt für alle Juden in Vincennes und Saint-Mandé eine zentrale Anlaufstelle ist, glaubt Scetbon. „Am Freitag machen wegen des bevorstehenden Schabbats dort viele ihre Einkäufe. Es war ihm klar, dass er sein Ziel nicht verfehlen würde.“

Blumen und Kerzen vor dem jüdischen Supermarkt

Ich bin Jude, ich bin Charlie, ich bin Polizist

Einigen jüdischen Geschäften in Saint-Mandé bleibt seit dem Anschlag ein Teil der Kunden weg. Für Sabrina Scetbon kein Wunder. „Ich habe nach dieser immensen Tragödie auch Angst, in ein koscheres Restaurant oder in ein Café zu gehen – aber ich zwinge mich, es trotzdem zu tun, ich will meine Angst besiegen.“

Spätestens nächste Woche will der Supermarkt Hyper Cacher wieder öffnen. Auch Sabrina Scetbon will wieder dort einkaufen, es gehe doch auch um die Arbeitsplätze der Angestellten. Doch viele ihrer Bekannten haben schon angekündigt, sich in Zukunft Lebensmittel lieber nach Hause liefern zu lassen.

Scetbon dreht ihr Handy um und zeigt auf den Aufkleber auf der Rückseite: „Je suis Charlie“. Es klinge vielleicht ein wenig zynisch, sagt sie. Und fragt dann: „Hätte es nur den Anschlag auf den jüdischen Supermarkt gegeben und nicht die Attacke auf Charlie Hebdo, hätte es dann diese große Mobilisierung gegeben? Wohl kaum.“