Alltag mit Patrouillen

In diesen Zeiten nach Frankreich reisen? Auch Familie Salge diskutierte diese Frage vor einigen Wochen. Jetzt stehen Mutter Stefanie, Vater Peter und ihre zwei Töchter im Pariser Ostbahnhof. Sie warten darauf, dass auf den Monitoren das Abfahrtgleis für ihren TGV nach Deutschland angezeigt wird, der Urlaub geht zu Ende.

Nach dem Anschlag in Nizza grübelte die Familie, ob Paris das richtige Reiseziel sei. Genau wie viele andere Touristen fragten sie sich: Was erwartet uns vor Ort? Was hat sich in Frankreich verändert? Sind wir dort wirklich sicher? Am Ende waren es die Töchter, die vehement für Frankreichs Hauptstadt plädierten und sich schließlich durchsetzten. „Ein Anschlag kann ja überall passieren, auch in Deutschland“, sagt Peter Salge.

Die Familie aus Hildesheim hat ihre Entscheidung nicht bereut. Ein schönes Hotel mit Roof-Top-Bar auf Montmartre, der Blick vom Eiffelturm auf das Pariser Häusermeer. In Niedersachsen hatte man ihnen noch empfohlen, die Eiffelturm-Tickets schon vorab im Internet zu buchen, um Zeit zu sparen. „Doch als wir nachmittags dort ankamen, war es ziemlich leer vor den Kassen“, erinnert sich Peter Salge. Beim späteren Flanieren durch die Gassen von Paris waren die Anschlagssorgen irgendwann fast verschwunden.

Soldaten am Jardin du Luxembourg

Soldaten am Jardin du Luxembourg

Und doch ist die Angst vor dem Terror im öffentlichen Stadtbild präsent. „Vor allem durch die vielen Polizisten und Soldaten, die patrouillieren“, sagt Stefanie Salge. Was in Frankreichs Städten für Sicherheit sorgen und Einwohner wie Touristen beruhigen soll, hat auf manche Touristen eher die gegenteilige Wirkung.  „Wenn ich die Maschinengewehre sehe, habe ich eher ein Gefühl von Bedrohung“, sagt Stefanie Salge.

Was für Franzosen längst Alltag ist, irritiert vor allem deutsche Touristen, schließlich ist der Einsatz des Militärs für Polizeiaufgaben in Deutschland nur in wenigen Ausnahmefällen erlaubt. In Frankreich sind dagegen 10.000 Soldaten für die sogenannte Opération Sentinelle mobilisiert worden – vor allem in den Städten, aber auch in den ländlichen Gebieten mit touristischen Highlights.

Frankreich, Patrouillenland. Manchmal sorgt das für skurrile Momente. Wer etwa im Urlaubsmonat August eine Kanufahrt auf der Dordogne machte, die Burgen am Flussufer bestaunte und langsam vorbeipaddelte an La Roque-Gageac, dem idyllischen 500 Einwohner-Dörfchen am Fuß einer hoch aufragenden Felsklippe, der sah an manchen Tagen am Ufer Sicherheitskräfte mit Maschinengewehren im Anschlag.

Wer in Saint-Jean-de-Luz im Baskenland auf einer Terrasse seine moules marinières mit Fritten aß und aufblickte, auch der sah kräftige Soldaten in schusssicheren Westen und mit strengem Blick vorbeilaufen. Und wer in Paris durch die Gänge des Metrosystems irrt, trifft auch in diesem Herbst hin und wieder auf Grüppchen von bewaffneten Sicherheitskräften.

Manchmal werden sie sogar ins Showprogramm eingebaut. Straßenkünstler William bekommt Applaus von den Touristen, die seine Kopfstände und Akrobatik unterhalb der Basilika Sacré-Cœur betrachten, als drei Soldaten vorbeilaufen. „Das sind meine Bodyguards“, sagt er und die Leute lachen, selbst die Soldaten schmunzeln. Beatrix (59) und Roland (62) aus Saarbrücken sitzen auf den Stufen und blinzeln in die Nachmittagssonne. Sie sind schon zum achten Mal in Paris, übernachten in einer kleinen Ferienwohnung. Dieses Mal wollen sie sich das Weinfest Fête des Vendanges auf dem Montmartre anschauen. „Wir fühlen uns wie in jedem anderen Jahr auch und haben keine Angst“, versichert Beatrix. Roland ergänzt: „Und wir lassen uns das Reisen nicht vergällen.“

Straßenkünstler unterhalb von Sacré-Coeur - und seine "Bodyguards"

Unterhalb von Sacré-Coeur

Beide waren sogar zu Silvester 2015 zu Besuch in ihrer Lieblingsstadt, obwohl Paris noch traumatisiert war von den Anschlägen des 13. November. Damals schauten sie bei der Marianne-Statue auf der Place de la République vorbei, wo die Pariser all der Opfer gedachten, Kerzen aufgestellt hatten, gemeinsam trauerten. „Das hat uns sehr bewegt.“ Und sie sind dennoch wiedergekommen.

Mit dieser Jetzt-erst-recht-Haltung haben die beiden Deutschen viel gemein mit den Franzosen. Gelassenheit. Die lieb gewonnenen Freiheiten nicht einschränken lassen. Der Unkalkulierbarkeit des Lebens trotzen. Die Terroristen nicht gewinnen lassen. „Ich habe keine Angst“, sagen manche Pariser mit fester Stimme, wenn man sie fragt, ob sich etwas verändert hat nach den Anschlägen. „Il faut vivre avec“, man muss mit der Bedrohung leben.

Und doch ist Parisern wie Touristen klar: Frankreich ist nach wie vor Ziel Nummer eins der islamistischen Terroristen. Natürlich ist das ein Grund zur Sorge. Deswegen hört man von Franzosen, wenn man ein bisschen nachfragt, eben auch Sätze wie diese: „Ich schaue genau, wer neben mir in der Métro ist.“ „Mir ist mulmig, wenn ich einen herrenlosen Koffer sehe.“ „In Konzertsälen will ich wissen, wo die Notausgänge sind.“ Normalität hört sich anders an.

Seit Beginn des Sommers gab es laut France Info ein Dutzend Verhaftungen von Jugendlichen, die sich in kurzer Zeit radikalisiert hatten und angeblich Anschläge verüben wollten oder zumindest in Kontakt zum sogenannten „Islamischen Staat“ hatten. Drei Frauen planten, ein Auto voller Gasflaschen beim Bahnhof Gare de Lyon im Südosten von Paris zur Explosion bringen. Der Anschlag konnte – genau wie zahlreiche weitere seit 2015 – verhindert werden. Es gilt weiterhin der Ausnahmezustand, der Ermittlern weitgehende Befugnisse ermöglicht, ohne dass Richter ihre Zustimmung geben müssen.

Frankreichs Regierung erinnert immer wieder daran, dass sich das Land im Krieg befindet. Terrorexperten machen deutlich, dass es nicht die Frage ist, ob es wieder einen Anschlag geben wird, sondern wann und wo. Sie warnen vor Anschlägen mit Autobomben, aber auch vor „Low-Cost-Anschlägen“, solche mit einfachsten Mitteln. So wollte vor Kurzem ein Jugendlicher auf der Fußgängerpromenade Coulée verte – östlich der Bastille auf einer ehemaligen Eisenbahnlinie – mit einem Messer auf Menschen einstechen. Er wurde verhaftet, bevor er die Tat begehen konnte.

An diesem Schild kommt man in Frankreich ständig vorbei: Es gilt der Plan Vigipirate

Typisches Dreieck in Frankreich: Im Land gilt der Plan Vigipirate

Sicherheit und Wachsamkeit sind Dauerthema in den Medien und in der Politik. Die Präfekten müssen vor allem kurz nach einen Attentat abwägen, welche große Veranstaltung abgesagt wird, weil die Sicherheit der Menschen nicht gewährleistet werden kann. So geschehen mit der beliebten Grande Braderie in Lille, einem der größten Volksfeste und Trödelmärkte des Landes, das normalerweise Anfang September von mehreren Millionen Menschen besucht wird.

Doch die meisten Veranstaltungen fanden bereits kurze Zeit nach dem Terroranschlag in Nizza wieder statt. Der Marathon du Médoc in der berühmten Weingegend Südfrankreichs etwa. Bei dieser Sportveranstaltung im September nahmen 8.500 Menschen aus über 70 Nationen teil. „Das war schwer zu organisieren, aber letztlich wurde alles gut gemeistert“, sagt Yasmine Delia Greifenstein vom Tourismusverband Aquitaine.

Genau wie das beliebte Straßenkunstfestival Fest‘ Arts in Libourne im Département Gironde. Zwischen Gauklern, Straßenkünstlern und Musikern standen auch vereinzelt Soldaten mit Maschinengewehren. Das sei zwar ein seltsamer Anblick gewesen, sagt Greifenstein. „Aber wer will sich von Daech (so nennt man in Frankreich den IS) das Lachen und Spaß haben verbieten lassen?“

Auch die Badesaison ist ohne große Zwischenfälle an den Stränden vorübergegangen – abgesehen von der Burkini-Debatte. In mehreren Badeorten am Atlantik zog man eine positive Bilanz, was die Zusammenarbeit von Police Nationale, Gendarmerie, Militärs und Rettungsschwimmern angeht. Zahlreiche Polizei-Bademeister trugen diesen Juli und August erstmals eine Waffe in einer Gürteltasche am Körper. Auch nächstes Jahr solle das so gehandhabt werden, fordern viele.

Eine offizielle Saisonbilanz lässt noch auf sich warten, doch viele Hoteliers klagen schon heute. Trotz der Fußballeuropameisterschaft im Juni und Juli kamen weniger Touristen nach Frankreich als noch im Jahr 2015. Vor allem Amerikaner, Asiaten und Russen verzichteten auf ihren Frankreichurlaub. All das sind Warnsignale für die Tourismusbranche. Allein im Großraum Paris hängen 500.000, an der Côte d’Azur immerhin 75.000 Arbeitsplätze vom Tourismus ab.

Nach dem Anschlag von Nizza blieben kurzfristig zehn Prozent der Touristen der Côte d’Azur fern, der Küstenstreifen verzeichnet seit Jahresbeginn einen Umsatzeinbruch von 20 bis 25 Prozent. Betroffen waren vor allem die Hotels der mittleren und höheren Preisklasse. Ein Krisenstab wurde eingerichtet, eine Million Euro für den Tourismus zur Verfügung gestellt. „Wir haben sehr schnell damit begonnen, ein positives Image von der Côte d’Azur zu vermitteln – etwa mit dem Hashtag #CotedAzurNow“, sagt Florence Lecointre vom Tourismusverband Côte d’Azur. Werbeplakate landesweit, TV-Spots, Sondertarife in ausgewählten Hotels.

Das Schloss Chambord an der Loire meldete gerade erst einen Besucherrückgang von 6 Prozent. Hier sind es vor allem Japaner, die nicht mehr anreisen. Die Deutschen hingegen halten ihrem beliebten Reiseland die Treue. „Allerdings sind Familien mit kleinen Kindern momentan etwas zögerlicher, nach Frankreich zu reisen“, sagt Monika Fritsch von der französischen Tourismus-Marketing-Organisation Atout France in Frankfurt am Main. Allen, die Sorgen um ihre Sicherheit haben, empfiehlt sie einen Urlaub in der französischen Provinz und verspricht: „Dort stellt sich ein ganz normales Urlaubsgefühl ein.“

Buchungsrückgänge von 50 Prozent direkt nach den Anschlägen verzeichnete auch Julie Fortney, die mit ihrem Mann seit sechs Jahren kulinarische Touren durch Paris anbietet. „Sind wir denn in Sicherheit, wenn wir kommen?“, fragen die Touristen in ihren Mails. Doch wer in westlichen Ländern kann in diesen Zeiten darauf schon mit einem sicheren Ja antworten? „Wir versuchen sie zu beruhigen und sagen, dass die Polizei viel präsenter ist als früher.“

Die Bevölkerung in den großen Städten hat sich mittlerweile an all die Sicherheitsvorkehrungen gewöhnt, klaglos lässt sie unzählige Kontrollen an Eingängen über sich ergehen. Vor großen Kaufhäusern, Museen, Ämtern und Präfekturen, vor Konzerthäusern und Theatern schauen Sicherheitsleute in Handtaschen, Rucksäcke, Tüten. Der Blick ist jedoch oft so kurz und oberflächlich, dass man Zweifel an der Wirksamkeit solcher Kontrollen haben darf. „Wer sich weigert, seinen Koffer auf unseren Wunsch zu öffnen, dem können wir den Zutritt zum Einkaufszentrum Forum des Halles verwehren“, sagt ein Wachmann in der beliebten und frisch restaurierten Shoppingmall im Herzen von Paris.

Handtaschenkontrollen sind allerdings nicht die Folge der jüngsten Anschläge, sie haben nur deutlich zugenommen. Angeordnet wurden sie als Teil des Antiterrorplans Vigipirate. Ein schwarzes Dreieck mit roter Fläche und dem Hinweis „Alerte Attentat“ (Attentatswarnung) hängt an vielen Eingängen. Über 300 verschiedene Sicherheitsvorschriften umfasst dieser Plan. Er entstand Ende der 1970er Jahre als Reaktion auf einen palästinensischen Terroranschlag am Flughafen Orly. Seitdem und wurde der Plan immer wieder verschärft – etwa nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA und 2005 in London.

Der Plan Vigipirate soll vor allem die Wachsamkeit der Bürger erhöhen. Durchsagen in Bahnhöfen und Flughäfen bitten die Reisenden, keine Gepäckstücke zu vergessen oder herrenlose Taschen und Koffer sofort zu melden. Werden dennoch herrenlose Gepäckstücke gesichtet, sogenannte colis suspects, rückt der Minenräumdienst an – und die Bahn bleibt erst einmal stehen. Wer in Paris mit der Métro oder der S-Bahn RER unterwegs ist, muss sich deshalb auf so manche Verzögerung einstellen.

All diese Maßnahmen zeigen Wirkung: Die Franzosen sind aufmerksamer als noch vor einem Jahr. Laut dem Metrobetreiber RATP meldeten sie im Juni 2016 sechs Vorfälle pro Tag, das sind 60 Prozent mehr als im Vorjahr. Auch an Flughäfen und Bahnhöfen meldeten Franzosen seit 2015 viel häufiger herrenlose Gepäckstücke und Taschen. Die meisten entpuppten sich als harmlos. 2015 mussten lediglich zehn von rund 2.200 verdächtigen Fundstücken in den Pariser Flughäfen kontrolliert gesprengt werden.

Ticketkontrollen auf dem Bahnsteig an der Gare de Lyon: Nur wer einen Fahrschein hat, darf zum Zug

Ticketkontrollen auf dem Bahnsteig an der Gare de Lyon: Nur wer einen Fahrschein hat, darf zum Zug

Wer innerhalb Frankreichs den TGV etwa von Paris nach Lyon oder Marseille benutzt, muss sein Ticket den Mitarbeitern der Französischen Bahngesellschaft SNCF oft schon am Anfang des Bahnsteigs vorzeigen. Angehörige können also nicht mehr mit zum Zug gehen, um etwa an der Zugtür noch ein Abschiedsküsschen zu geben. „Die Police Nationale macht sporadisch auch Kofferkontrollen auf dem Bahnsteig vor dem Einsteigen“, sagt eine SNCF-Mitarbeiterin an der Gare de Lyon.

Jedes Gepäckstück muss zudem mit einem Adressanhänger versehen sein. Wer im Bahnhof Gare du Nord den Thalys in Richtung Belgien oder Deutschland nimmt, sollte mindestens 30 Minuten vor Abfahrt am Gleis sein. Seit dem vereitelten Anschlag in einem Thalys-Zug von Amsterdam nach Paris im August 2015 gibt es eine Sicherheitsschleuse wie am Flughafen. Und zu guter Letzt sollen in manchen TGV-Zügen ab sofort auch zivile bewaffnete Zugbegleiter mitfahren, sogenannte train marshalls, die im Fall eines Amoklaufes eingreifen könnten.

Wegen solcher verstärkten Kontrollen ist es ratsam, einen Sicherheits-Zeitpuffer bei der Anreise zu französischen Flughäfen oder Bahnhöfen einzuplanen. Manchmal gibt es an den Flughäfen bereits an den Eingangstüren zu den Terminals Taschenkontrollen – ähnlich wie in anderen Ländern.

Der Plan Vigipirate hat manchmal auch Auswirkungen auf das Programm der Schulklassen, die ihre Austauschklassen besuchen. So dürfen Klassen im Großraum Paris nicht mit der RER nach Paris fahren. Schüler und Lehrer müssen oft selbst organisierte Reisebusse statt öffentliche Verkehrsmittel nehmen.

Die gute Nachricht: Das Leben wird weiter genossen.

Die gute Nachricht: Das Leben wird weiter genossen.

Natürlich trüben solche Sicherheitsmaßnahmen keinen Urlaub – sie kosten nur hin und wieder etwas Zeit und Nerven. In anderen westlichen Ländern erlebt man Ähnliches. Aber fragt man in französischen Office de Tourisme oder an Infoschaltern in Bahnhöfen nach einem offiziellen Faltblatt, auf dem solche Veränderungen und Verhaltenstipps zusammengefasst sind, schaut man bei den Mitarbeitern in verwunderte Gesichter. Frankreich scheint sich schwer damit zu tun, die Touristen offen über neue Sicherheitsvorkehrungen aufzuklären und ihnen Tipps zu geben, worauf sie sich während ihres Aufenthaltes einstellen müssen.

Hinweise zur Sicherheitslage und zu den Folgen des Plan Vigipirate sind auch auf Tourismuswebsites nur mit viel Geduld zu finden, meist richten sie sich an Reiseveranstalter oder Journalisten. Selbst die französische Botschaft in Berlin hat auf ihrer Website für Reisende nur einen Kurztext aus dem Jahr 2014 parat. Immerhin wird dort auch der Plan Vigipirate erläutert. Was er jedoch für konkrete Auswirkungen haben kann, bleibt unbeantwortet.

Vielleicht fürchten die zuständigen offiziellen Stellen und Ministerien, dass Ratschläge und Hinweise die Urlauber zu sehr verunsichern könnten. Dabei ist das Leben in Frankreich normaler, als es sich viele Touristen vorstellen. Während einer TV-Debatte nach dem Anschlag von Nizza erläuterte ein Sicherheitsexperte, wie die Franzosen den sogenannten Krieg gegen den Terror führen sollten: „Normal weiterleben, auf Terrassen ein Glas Wein trinken, in Konzerte gehen, seine Freiheit von den Terroristen nicht einschränken lassen.“ Genau daran halten sich die Franzosen. Und Millionen Touristen mit ihnen.

Zaun an der Schule

Bing – eine Mail trudelt ein von einem früheren Kollegen aus Deutschland. Seine zwölfjährige Tochter hat gerade einen Frankreichaustausch mit einem Gymnasium bei Paris hinter sich. Er schreibt: „Sie war entsetzt, dass die Schule eingezäunt ist, ein Tor hat und bewacht wird. Man darf nur zu Beginn rein, wer zu spät kommt, hat Pech gehabt, raus kann man auch nicht. Ich hatte nie das Gefühl, dass in Frankreich so viele Verbrecher frei rumlaufen. Oder sind wir hier in Deutschland einfach nachlässig?“

Tatsächlich sind die Eingänge vieler Stadtschulen in Frankreich oft gut beaufsichtigt. Ein Gardien wacht am Eingang und schaut, wer rein und rausgeht. Er schreibt die Schüler auf, die zu spät kommen. Schüler sind es gewohnt, dass sie zu unüblichen Zeiten das Schulgelände nur dann verlassen dürfen, wenn sie ihr Schulheft vorzeigen, das Cahier de Correspondance. Darin müssen die Eltern bestätigt haben, dass das frühere Verschwinden aus der Schule in Ordnung ist.

Sicherheit in der Schule ist bei le Nachbar ein wichtiges Thema. Im französischen Schulsystem wird sehr darauf geachtet, dass die Schüler gut beaufsichtigt sind. Auch die Eltern legen Wert darauf. Wer in Frankreich am späten Nachmittag vor manchen Grundschulen vorbeikommt, der sieht nicht selten ein Verkehrschaos und ein Fußgängergewimmel: Mütter, Väter oder Nannys holen die Kinder von der Schule ab. Für manche deutsche Eltern wirkt diese Vorsicht sonderbar: Wird durch so viel Behütung und Aufsicht nicht verhindert, dass die Kinder Verantwortung und Eigenständigkeit lernen?

Später Nachmittag vor einer Grundschule in Paris: große Kinderabholung

Später Nachmittag vor einer Grundschule in Paris: große Kinderabholung

Absolute Sicherheit kann es trotz Personal am Eingang und trotz Mauern und Zäunen natürlich nie geben. Erst Mitte Mai hatte sich ein Mann in einer privaten Grundschule mitten in Paris vor den Augen von zwölf Kindern in den Kopf geschossen. Er betrat die Schule, wurde vom aufmerksamen Personal gleich angesprochen – aber er schaffte es noch, sich mit einem Jagdgewehr in der Eingangshalle umzubringen.

Die Sorge um die Sicherheit der Kinder hat wohl auch mit verschiedenen Zwischenfällen in den vergangenen Jahren zu tun, sagt Nicolas François, Direktor einer Grundschule im Pariser Vorort Fourqueux. „Vielen Eltern sind Sicherheitsvorkehrungen sehr wichtig, denn sie erinnern sich zum Beispiel noch an die Geiselnahme an einer Vorschule.“ Das passierte 1993: Ein Geiselnehmer hielt 21 Grundschüler und ihre Lehrerin zwei Tage lang fest, bis ein Elitekommando das Klassenzimmer stürmte und den Bewaffneten erschoss. Kinder und Lehrerin blieben unverletzt.

Auch das Jahr 2010 war geprägt von einer großen Debatte über die Sicherheit an den Schulen: Damals wurde in einer Pariser Vorstadtschule ein 18-jähriger Schüler von einem Mitschüler erstochen. In zwei andere Schulen drangen Jugendbanden ein, sie verprügelten ihre Opfer vor den Augen der Lehrer, es gab Verletzungen durch Messer. Obwohl diese Vorfälle eher an Schulen in sogenannten sensiblen Vororten passierten, hatten viele Eltern Angst um ihre Kleinen. Obwohl es keine Beweise gab, dass die Zahl der Fälle von Gewalt an Schulen tatsächlich zunahm.

Die Vorfälle führten sogar dazu, dass die Gesetze verschärft wurden. Seit 1994 kann das Eindringen in eine Grundschule ohne Grund oder Erlaubnis mit einer Geldstrafe oder mit der Pflicht zu gemeinnütziger Arbeit belegt werden. Schulen seien eben keine Orte wie Bahnhöfe und Flughäfen mit öffentlichen Publikumsverkehr, so die Begründung. Und seit 2010 gilt: Wer in eine Schule eindringt, um dort vorsätzlich die Ruhe oder den geregelten Ablauf zu stören und Dinge zu beschädigen, kann bestraft werden mit bis zu einem Jahr Gefängnis und 7500 Euro.

Seitdem Frankreichs Armee zu Jahresbeginn in Mali intervenierte, müssen die Schulen verstärkt auf Sicherheitsregeln achten – es gilt der Sicherheitsplan Vigipirate (siehe Le-Nachbar-Beitrag vom 15. Februar). Auch an der Grundschule von Nicolas François muss deswegen zurzeit zu bestimmten Zeiten das Tor immer geschlossen sein – wer zu spät zur Schule kommt, muss läuten.