Notre-Dame, Erinnerung

Fast genau vor einem Jahr wollte ich von oben auf Paris schauen. Mal nicht vom Eiffelturm aus, lieber von hier, dem Ursprung und Herzen der Stadt, der Île de la Cité. Ich stieg auf den Südturm der Notre-Dame. Was für ein Ausblick in 69 Metern Höhe: auf den schlanken Spitzturm, auch Dachreiter genannt, auf die Seine, in der Ferne Sacré-Cœur, das Centre Pompidou. Auf der Turmgalerie begrüßten mich die steinernen Fabelwesen, die Chimären aus dem 19. Jahrhundert. Manche strecken die Zunge heraus und gucken böse – der saure Regen spielt ihnen schon lange übel mit.

Das Centre Pompidou ist nicht weit entfernt.

Von der Turmgalerie aus sehen die Touristen auf dem Vorplatz aus wie Stecknadelköpfe.  Auf diesem Platz ist ein Metallstern eingelassen, der den Kilometer Null anzeigt: Alle Entfernungen nach Paris auf den Straßenschildern Frankreichs werden bis hierher gemessen.

Der Vorplatz der Kathedrale

Fabelwesen blicken über die Stadt.

Die Türme von Notre-Dame begleiten jeden Paris-Besucher beim Streifen durch die Stadt. Denn man sieht sie immer wieder, etwa wenn man an den Seine-Ufern entlangspaziert. Oben auf dem Turm, erinnerte ich mich: 2013 wurde die Kathedrale ein ganzes Jahr lang gefeiert. Denn Notre-Dame beging ihr 850-jähriges Bestehen. Sie bekam neun neue Glocken, was viele Pariser sehr bewegte. Sie kamen aus der berühmten Glockengießerstadt Villedieu-les-Poêles in der Normandie. Zunächst wurden sie im Innenraum zum Bewundern aufgestellt, dann geweiht und montiert.

Beim Blick auf die Stadt erinnerte ich mich auch an das Gedenken an die Terroropfer in der Kathedrale in den düsteren Anschlagsjahren 2015 und 2016: Schon immer war dieses Gotteshaus für die Pariser ein Anker in schweren Stunden. Weil Notre-Dame eben ein Ort ist, der alles überdauert.

Das glaubte man zumindest, bis Mitte April das Feuer ausbrach.

Der Dachreiter auf dem Dach der Kathedrale: Er stürzte ein beim Brand, der auch das Dach zerstörte.

Paris-Tipp: Flanieren am Bassin

Langsam gleitet auf dem Bassin de la Villette ein Ausflugsboot vorbei. Boule-Kugeln klacken vor der „Bar Ourcq“ – zwei Teams spielen gegeneinander. Leihen kann man sich die Kugeln für das Pétanque-Spiel gratis in der Bar. Ihr Besitzer Jérôme Naccache sitzt an einem Tisch und sichtet Rechnungen. Beinahe 15 Jahre schon betreibt er die Bar, sie ist eine kleine Institution hier am Bassin im Nordosten von Paris. Naccache erinnert sich: Damals hatte diese Ecke die Pariser kaum interessiert. Erst als das beliebte Doppelkino MK2 an beiden Ufern erbaut wurde, lockte das die Leute hierher. „Heute haben wir hier den Ansturm der Bobos wie in den anderen Vierteln“, sagt Naccache. Bobos, Bourgois-bohèmes, so nennen die Franzosen die alternativen Wohlstandsbürger.

Boote am Bassin de la Villette

Am Bassin de la Villette ist eine der schönsten Promenaden der Stadt, hier findet man Ruhe vor Autolärm und auch vor Touristen. Naccache mag das Flair. „Jungs aus den nördlichen Vorstädten, orthodoxe Juden, Obdachlose, Künstler, Bobos – sie alle kommen hierher.“ Im August veranstaltet die Stadt auch einen Ableger der Strand-Aktion „Paris Plages“ hier am Wasser.

Ein paar Schritte weiter sitzen auf der Terrasse des „Pavillon des Canaux“ zwei Frauen bei Kuchen und Tee. Aus dem früheren Kanalwärterhäuschen ist ein hübsches Café geworden, manchmal gibt es Kinderprogramm, Pilates und Workshops. Schüler ziehen aus dem Bootshaus nebenan Kanus und damit auf dem Wasser ihre Bahnen. Auf der Terrasse des Brauhaus „Paname Brewing Company“ schauen ihnen Leute bei einem Nachmittagsbier zu.

Man kann das Bassin auch auf einem Fußgängersteg überqueren.

Das Bassin lässt sich schön umrunden vorbei an den zu Wohnhäusern umgebauten Lagerhallen auf die andere Uferseite – am besten über die letzte Hebebrücke von Paris in der Rue de Crimée. Dieser „pont levant“ grenzt das Bassin ab vom Canal de l´Ourcq, der hochführt zum Parc de la Villette mit seinen Konzerthallen, der bei Kindern beliebten Cité des Sciences et de l´Industrie und der neuen Pariser Philharmonie. Erbaut wurde die Hebebrücke 1884 von demselben Betrieb, der die Fahrstühle des Eiffelturms installierte. Zirka 9000 Mal im Jahr hebt und senkt sich die Stahlbrücke, von einer Fußgängerbrücke nebenan kann man das Spektakel gut beobachten.

Kleine Zwangspause: Warten an der Hebebrücke (gerade oben), bis die Boote durch sind.

Wenn man dann auf der anderen Seite zurückläuft kommt man bei der Rue Riquet an den Bars „Le Bellerive“ und „Le Bastringue“ vorbei, wo die Einheimischen am späten Nachmittag beim Aperitif sitzen und gen Wasser schauen, als läge Paris am Meer. Etwas weiter dann liegen fest vertäut zwei Péniches, zwei alte Kähne, die zur Bar bzw. Bar-Theater umfunktioniert wurden. Wer aktiver sein will und nicht nur beim Glas Wein sitzen will, kann beim benachbarten Bootsverleih sich ein Boot leihen und ein bisschen umherkurven auf dem Wasser. Sogar für Kinder gibt es eine Boote – nur die Preise fürs Leihen erinnern daran, dass man in Paris ist und nicht an einem Strand in der Provinz.

Bar Ourcq, 68, Quai de la Loire, in der kälteren Jahreszeit nur Do, Fr, Sa, So ab 15 Uhr; Pavillon des Canaux, 39, Quai de la Loire, täglich ab 10 Uhr; Métro: Jaurès

Französischer Garten verpflichtet

Sie wühlten neben dem Winter. Die Wildschweine kamen in der Nacht, rissen mit ihren Schnauzen Löcher in den gepflegten Rasen direkt neben der Gartenstatue aus dem 17. Jahrhundert, die mit Holz in der Hand die kalte Jahreszeit symbolisiert. Jetzt klaffen dunkle Erdwunden im hellem Rasengrün.

Patrick Borgeot bremst sein Elektromobil und betrachtet den Schaden. Die Wildschweine kämen vor allem im Herbst nachts aus dem Wald, sagt der Chefgärtner von Vaux-le-Vicomte. Sein Gärtnerteam wird anrücken müssen, um dieses Rasen-Massaker zu beseitigen. „Das ist demoralisierend“, sagt er. Denn man wisse: Die Tiere kommen wieder, auch wenn einer der Schlossbesitzer sie hin und wieder jage.

Im Garten von Vaux-le-Vicomte

Borgeot fährt weiter, vorbei an Buchskegeln und am Brunnen der zentralen Mittelachse des Gartens. Sein „Club Car“ summt, unter den breiten Reifen knirscht der Kies der Parkwege. Es ist kurz nach acht Uhr, der 50-Jährige mit grauem Haar macht seine Schlossgarten-Kontrolltour mit Sonnenbrille und Elektrozigarette, in braun-grüner Outdoor-Jacke, Jeans und schwarzen Turnschuhen. Nächster Stopp: das Blumenparterre.

In knapp zwei Stunden werden die ersten Besucher und Schulklassen eintreffen in Vaux-le-Vicomte, dem berühmten Schloss 50 Kilometer südöstlich von Paris. Bis dahin muss er wissen, ob in dem Barockgarten alles der strengen Ordnung entspricht. Am Tag zuvor war es stürmisch und regnerisch. Borgeot hält an und wetzt zu den Pflanzen. Dahlien, Kosmeen, Wiesensalbei, Hibiskus, Fleißiges Lieschen: Sie stehen da exakt in Reihen und diagonal, aber nicht alle wie eine Eins. Manche hat der Wind umgeknickt.

10.000 Pflanzen ordern die sieben Gärtner von Vaux-le-Vicomte im Jahr. Viel kreativen Gestaltungsspielraum haben sie nicht. „Wir haben strikte Vorgaben“, sagt Borgeot, „in einem französischen Garten ist unsere Rolle eher die der Pflege.“ Doch hier bei den Blumenbeeten dürfe sein Team Akzente setzen, was Farbe und Höhe der Pflanzen angehe. Blaue, rosa und weiße Blüten dominieren dieses Jahr. Borgeot steckt die Hand in das Erdreich, um zu testen, ob er die Bewässerungsanlage einschalten muss. Dann säubert er sie am morgenfeuchten Rasen, springt auf sein Club Car und nimmt mit seinem Smartphone auf: „Kosmeen umgeknickt, müssen wir austauschen.“

Als junger Mann hat Borgeot einst in der Pariser Region eine Landwirtschaftschule besucht. Bereits sein Vater war Gärtner, nach der Ausbildung arbeitete er in dessen Landschaftspflege-Betrieb mit. Später leitete er selbst 20 Jahre so einen Betrieb, bevor er wegen der schlechten Auftragslage diesen aufgab und 2007 seine jetzige Stelle annahm. Für Vaux-le-Vicomte zu arbeiten, das erfülle ihn mit Stolz, sagt er. Dieser Garten sei schließlich eine wichtige Etappe in der Geschichte der Gartenkunst gewesen.

Es war der damalige Oberintendant der Finanzen unter dem jungen König Ludwig XIV., Nicolas Fouquet (1615-1680), der sich mit Vaux-le-Vicomte im 17. Jahrhundert einen prachtvollen Traum verwirklichte. Er versammelte die großen Künstler seiner Zeit, um dieses Anwesen von 1656 bis 1661 zu erschaffen: den Architekten Louis Le Vau, den Maler und Dekorateur Charles Le Brun et den Gärtner und Landschaftsarchitekten André Le Nôtre.

Chefgärtner Patrick Borgeot mit Garten auf der Sonnenbrille

Dieses Trio hatte damals das, wovon Architekten meist nur träumen können: einen Auftraggeber, der ihnen für dieses Gesamtwerk freie Hand ließ. Sie erschaffen ein harmonisches, prachtvolles Ensemble von Schloss und Garten, an dem sich die Mächtigen in ganz Europa orientierten. Das Vaux-Trio unterwarf Anfahrt, Schloss, Nebengebäude und Garten einer nie dagewesenen strengen, an einer Achse orientierten Ordnung. Sicher: Terrassen, Alleen, Brunnen, Parterres, Perspektiven, Grotten, Wasserkünste – all diese Gartenelemente gab es schon vorher. Aber Le Nôtre fügt sie für Vaux-le-Vicomte zu einem Gesamtbild zusammen.

Sagenumwoben ist das opulente Fest am 17. August 1661: Gast König Ludwig XIV. ist so begeistert, dass er die selben drei Männer für den Bau des Schlosses und der Gartenanlage in Versailles verpflichtet. Vorher lässt er Fouquet nach einem Komplott zu lebenslanger Haft verurteilen. „Ohne Vaux-le-Vicomte wäre Versailles nicht das, was es ist“, sagt Patrick Borgeot.

Natürlich weiß er: Versailles ist eine ganz andere Schlossgarten-Liga. Während dort rund 80 Gärtner tätig sind, komme sein Sechs-Mann-Team kaum hinterher, der Natur Grenzen aufzeigen. Am Morgen hat Borgeot den Kollegen bereits im Technik-Hangar ihre Aufgaben zugewiesen. Ein Viererteam schneidet seitdem die weißen Granville-Rosen im Innenhof des Besuchergebäudes, sie lassen die Blüten hängen. Die anderen beiden sind am Broderie-Parterre vor der Südfassade des Schlosses unterwegs. Mit einem Rasentrimmer stutzt der eine die Rasen-Kanten gerade, der andere jätet Unkraut mit der Hand. „Wir mögen unsere Arbeit, aber wir sehen ständig, dass wir zuwenig Leute sind“, klagt der Chefgärtner.

Ob Ackerwinde, Gänsedistel, Löwenzahn, Gänseblümchen: Unkraut sprießt auf den Kieswegen, es schmiegt sich an die Skulpturen-Podeste, es lässt die Enden der Rasenflächen ausgefranst aussehen. Zum Glück gibt es heute Verstärkung: Borgeot begrüßt drei Frauen, die mit grünen Eimern zu den Broderien am Fuße des Schlosses laufen. Auf ihren Westen steht „Ehrenamtliche“. Die Damen aus dem Verein „Freunde von Vaux-le-Vicomte“ verstärken die Unkraut-Task-Force.

Gemeinsam führen sie den tagtäglichen Kampf, die Natur im Barockgarten zu disziplinieren: Ihrem Wachstum Grenzen aufzuzeigen, ihrer Lust zu wuchern Einhalt zu gebieten oder gemäß bestimmter Formen zu wachsen. „Wir sind die kleinen Ameisen, die täglich ihr Tagwerk tun auf lange Sicht“, sagt Borgeot. In einem französischen Garten gehe es um stetige Basis- und Feinarbeit.

Wildwuchs verboten, klare Formen erlaubt

Aber auch um radikale Schnitte. Auf der Westseite des Gartens an den Hecken übertönt Maschinenlärm das morgendliche Vögelgezwitscher. Auf einer Hebebühne steht ein Mann und schneidet mit einer Motorschere präzise die obere Heckenseite. Ein Traktor fährt den Hecken entlang und schneidet mit einem Heckenscheren-Arm das Blattwerk kerzengerade – ein Laser sorgt für Präzision. Solche größeren Mäh- und Schnittarbeiten haben die Schlossbesitzer schon vor vielen Jahren an eine externe Firma abgegeben. Deren Männer arbeiten konzentriert. Denn ungerade Schnitt-Patzer und Heckenlöcher sind Tabu in einem Barockgarten.

Borgeot zieht an seiner E-Zigarette, er blickt über die Hauptachse an das Ende des 33 Hektar großen französischen Gartens zur goldenen Herkulesstatue. Stress und Stolz liegen für ihn an diesem Arbeitsplatz nah beieinander. Strenge ja, Symmetrie ja, Hierarchie ja. Aber Le Nôtre lasse dennoch in dem Garten keine Monotonie aufkommen. „Er überrascht uns, täuscht unsere Sinne immer wieder, je nachdem, wo wir uns im Garten aufhalten“, sagt er fasziniert. Manche Querkanäle und Seitenachsen werden wegen der Höhenunterschiede der Terrassen für die Besucher erst sichtbar, je weiter sie sich im Garten fortbewegen. Borgeot spricht von der „perspective ralentie“, der perspektivischen Täuschungen. Um der optischen Verkleinerung von Gartenelementen entgegenzuwirken, habe Meistergärtner Le Nôtre zum Beispiel hintere Wasserflächen größer angelegt als die vorderen.

Es ist ein kleines Wunder, dass dieser Garten bis auf wenige Veränderungen noch so ist, wie er einst von André Le Nôtre gestaltet wurde. Jahrzehntelang war das Anwesen dem Verfall anheimgegeben. Doch 1875 ersteigert der reiche Zuckerfabrikant Alfred Sommier Schloss und Garten. Der Kunstliebhaber lässt Vaux-le-Vicomte aufwändig restaurieren und den stark verwilderten Garten retten. Sommiers Sohn Edme und dessen Frau Germaine Casimir-Perier bewahrten dieses Familienerbe.

Heute besitzen die de Vogüés, eine fast 1000 Jahre alte französische Adelsfamilie, dieses „patrimoine“, wie die Franzosen ehrfurchtsvoll Kulturerbe und nationale Denkmäler nennen. Der Urenkel von Alfred Sommier, Patrice de Vogüé, erhielt das Anwesen 1967 als Hochzeitsgeschenk. Ihm wurde klar: Der Unterhalt verschlingt immense Summen. Im Mai 1968 öffnete er deshalb Schloss und Garten für Besucher. Später kommen eine Souvenir-Boutique und ein Restaurant dazu. Aus dem abgeschirmten privaten Familienschloss wird ein Unternehmen mit inzwischen 70 Angestellten.

Einer der Besitzer von Vaux-le-Vicomte, Alexandre de Vogüé

Sohn Alexandre de Vogüé (48) steht in Sneakers und T-Shirt mit Bergmotiv im Vorzimmer des Königs und blickt durch ein Schlossfenster hinaus auf den Garten. Hinter ihm laufen Schlossbesucher vorbei, die die prachtvollen Räume und Antiquitäten bestaunen. Vor fünf Jahren haben er und sein Zwillingsbruder Jean-Charles die Leitung von ihrem Vater Patrice übernommen, etwas später schloss sich ihnen auch ihr Bruder Ascanio an. Sie sind die fünfte Generation der Familie, die sich um das Anwesen kümmert.

Die drei Brüder wuchsen im Schloss auf. Damals wurde das Vorzimmer des Königs noch als Wohnzimmer für die Familie genutzt, hier stand der Fernseher. „Wir mussten ihn immer während der Öffnungszeiten verstecken und auch unsere Spielsachen wegräumen“, erinnert sich de Vogüé. Heute wohnt die Familie im östlichen Wirtschaftsgebäude.

300.000 Besucher kommen im Jahr nach Vaux-le-Vicomte – nach Versailles pilgern siebeneinhalb Millionen. Für Alexandre de Vogüé kein Grund, neidisch zu werden, im Gegenteil. Er spricht von der menschlichen, familiären und überschaulichen Dimension von Vaux-le-Vicomte, welche die Besucher schätzten. „Vaux hat eine Seele“, sagt er.

Und Vaux hat seinen Preis. Das größte private Anwesen in Frankreich, was als historisches Denkmal klassifiziert ist, erfordert hohe Summen für den Unterhalt und hat einen Jahresumsatz von acht Millionen Euro. Allein 1,3 Millionen Euro verschlingen im Durchschnitt jährliche Restaurierungsarbeiten im Schloss und im Garten, weitere 500.000 Euro kostet der Unterhalt des Gartens.

Er und seine Brüder müssen langfristige Restaurierungspläne machen, Mäzene suchen, Subventionen beantragen, Besucher anlocken. Die Schlossherren-Brüder lassen derzeit einen Zustandsbericht für das gesamte Anwesen erstellen, um zu wissen: Wann wird welches Dach, welcher Brunnen oder welche Wasserleitung restauriert werden müssen? All das erfordere viel Disziplin, de Vogüé. Doch seine Eltern hätten ihm beigebracht, dass man als Aristokrat vor allem Pflichten statt Rechte habe.

Das kulturelle und touristische Angebot rund um Paris ist groß, die de Vogüés müssen sich etwas einfallen lassen: Kostümtage, Sommerabende mit 2000 Kerzenlichtern, Abenteuer-Touren für Kinder, Ostereier-Suchen und Weihnachtsevent, Seminare und Schloss-Dîners. Hin und wieder wird das Anwesen verliehen für Hochzeiten und Filmdrehs: Der Stahlmagnat Lakshi Mittal buchte das Anwesen 2004 für die Hochzeit seiner Tochter Vanisha. Szenen für Kinofilme wie „Moonraker“ (James Bond) oder „Der Mann in der eisernen Maske“ mit Leonardo DiCaprio wie auch die Serie „Versailles“ wurden in Vaux-le-Vicomte gedreht.

Stolz eines jeden Barockgartens: die Broderien.

Nicht immer sind die Brüder einer Meinung, wie die Vision für die Zukunft des Anwesens aussehen soll. Aber es gehe ihnen allen darum, um diesen für die Geschichte Frankreichs wichtigen Ort zu erhalten, sagt Alexandre de Vogüé. Empfindet der Schlossherr, der eine Ausbildung auf einer Pariser Managementschule machte und früher als Hochgebirgsführer in Chamonix arbeitete, dieses Erbe nicht als Last auf seinen Schultern? Er selbst habe für sich einen Weg gefunden, mit dieser Last umzugehen, sagt er. Indem er Tag für Tag, Jahr für Jahr plane und arbeite. „Unsere Generation allein kann nicht alles restaurieren und reparieren. Aber wir können der nächsten Generation Vaux-le-Vicomte in einem guten Zustand übergeben.“

Draußen im Garten sorgt sich derweil Chefgärtner Borgeot um den Zustand der kunstvoll geschwungenen Buchsornamente südlich des Schlosses. Diese Broderien sind das prunkvollste Element eines jeden französischen Gartens. Statt saftig grün sind sie an vielen Stellen braun, gar hölzern und voller Lücken. Diese sorgsam geschnittenen Buchs-Hecken sind nicht nur altersschwach, sie leiden seit langem unter einem Schadpilz und den Buchsbaumzünsler-Raupen, die Blätter und Rinde abfressen. Im Frühjahr hätten sie auch noch Frost abbekommen. „Wenn ich die so sehe, macht mich das traurig“, klagt Patrick Borgeot.

260.000 Buchspflanzen wachsen im Garten von Vaux-le-Vicomte. Einmal im Jahr werden sie sorgsam geschnitten. Die Buchspflanzen auszutauschen und neu zu pflanzen, würde allein für die beiden Buchs-Broderien mehr als zwei Millionen Euro kosten. Also versucht man es derzeit mit Pheromonfallen für den Zünsler und wartet darauf, dass Wissenschaftler resistentere Pflanzen oder bessere Behandlungsmöglichkeiten erfinden.

Ein paar Mal im Jahr, wenn Patrick Borgeot während der Arbeit Abstand gewinnen will von Unkraut und Ungeziefer, dann steigt er hoch auf die Kuppel des Schlosses. Von dort blickt er auf die Schönheit des Ensembles, alles Unperfekte ist dann zu klein, um es wahrnehmen zu können.

Es sei lächerlich, zu denken, man könne die Natur im Griff haben, sagt Borgeot. „Wir Gärtner können sie ein bisschen disziplinieren, aber kaum machen wir Pause, ergreift sie sich wieder ihren Raum.“ Dann blickt er über den Garten von Vaux hinweg zum angrenzenden Wald, der zu Zeiten Fouquets noch nicht existierte. In der Ferne am Horizont taucht die Müllverbrennungsanlage des Städtchens Melun auf. Das Leben gehe weiter jenseits des französischen Gartens, sagt Borgeot. Darin herrscht statt strenger Ordnung das alltägliche Durcheinander des 21. Jahrhunderts. Und das beruhige ihn dann ein bisschen.

Ohne Auto ist Vaux-le-Vicomte von Paris aus gut erreichbar mit dem Vorortzug Richtung Provins ab dem Ostbahnhof Gare de l´Est. Von der Station Verneuil l`Etang fahren Shuttle-Busse. Informationen auf der Website http://www.vaux-le-vicomte.com.

Ein großes Dankeschön an den Schweizer Fotographen Raphaël Zubler für die Fotos. Siehe auch: http://www.raphaelzubler.com/2658608

Paris-Tipp: Kleine Flucht vor Touristen

Louvre, Eiffelturm, Montmartre – irgendwann ist es gut mit dem Pariser Touristen-Pflichtprogramm. Dann will man einfach mal eine normale Straße entlanglaufen mit Einheimischen-Anteil von mindestens 80 Prozent. Bummeln, Bistro, Boutiquen, ein bisschen Normal-Paris.

Man nehme: die Rue du Château d´eau. Kommt man aus der gleichnamigen Metrostation ans Tageslicht, fallen die vielen Afro-Friseursalons auf mit Namen wie „African Queen“ oder „Senegal beauté“. Junge afrikanischstämmige Männer auf dem Gehsteig versuchen, weibliche Kundschaft in die Salons zu locken. „Ich hab doch schon woanders einen Termin“, sagt eine schwarze Frau, lacht und läuft weiter.

Ein Afro-Salon in der Rue du Château d´eau

Ab dem Rathaus des 10. Arrondissements wird die Rue du Château d´eau ruhiger. Vor dem Feuerwehrgebäude rollen die Pompiers ihre Schläuche für eine Übung aus. Gegenüber im überdachten Markt „Marché Saint Martin“ (Hausnummer 31-33, Di bis Sa 9 bis 20 Uhr, So 9 bis 14 Uhr) gibt es Käse und Wurst für ein Picknick, das man an einem warmen Tag am Ende dieses Spaziergangs am Canal Saint-Martin machen könnte.

Die Gentrifizierung ist längst auch in diesem Viertel voll im Gange, und dennoch hat so mancher traditionelle Metzger und Handwerker überlebt. Vorbei an Wein- und Spielzeugläden, den sich überall in Paris vermehrenden Coworking-Spaces, dem bei Anwohnern beliebten Bistro „Le Petit Château d´Eau“, wo es mittags eine Plat du jour für 13 Euro gibt (Hausnummer 34), erreicht man die Galerie L´oeil ouvert (1, Rue Lucien Sampaix), die meist erschwingliche Drucke, Bilder und Fotos von Pariser Künstlern verkauft. Man sollte unbedingt noch einen Abstecher machen in die Trésorerie, einem Laden mit allerhand Küchen- und Wohnaccessoires im schwedischen Design (11, Rue du Château d´eau). Und groß gewordene Mädchen werden schwärmen von den Taschen und Kettchen im kleinen Atelier des Couronnes (Hausnummer 6), in dem die beiden Pariserinnen Louise Damas und Claire Rischette ihre Schmuck- und Lederideen Wirklichkeit werden lassen.

Wer gen Osten blickt, sieht schon die Bäume auf der Place de la République, dem Platz, an dem sich die Pariser nach den Terroranschlägen versammelt haben – eine Gedenkplatte vor einem Baum erinnert dort daran. Aber halt, lieber wieder ein paar Schritte zurückgehen in die Rue de Lancry Richtung Canal Saint-Martin. Ein Schreibwarenladen, dann das Schild „Spaghettina“. Viele Franzosen denken, hier gibt es Spaghettigerichte. Aber es ist eine Deutsche, die hier leckeres Spaghetti-Eis verkauft (61, Rue de Lancry, Mi bis Sa 13h-19 Uhr, So 14h-18h. Im Winter oft geschlossen).

Schnecken schauen Dich verführerisch an… in der beliebten Boulangerie Du Pain et des Idées, die leider aber am Wochenende geschlossen ist.

Daneben ein koreanisches Restaurant, „Guabao Saam“, dem die Pariser geradezu die Bude einrennen. Statt gleich geradeaus zum Canal Saint-Martin zu gehen, sollte man abbiegen zur Bäckerei Du Pain et des Idees (34, Rue Yves Toudic, Mo bis Fr ), nicht nur wegen der wunderbaren Rosinenschnecken, auch wegen seines schönen Interieurs mit viel Gold und Spiegeln.

Wer Paris nicht verlassen will ohne ein neues Kleidungsstück, der findet in der nahen Rue de Marseille und Rue Beaurepaire eine hohe Boutiquendichte. Am Ende liegt am Canal das Szenecafé „Chez Prune“ (36, Rue Beaurepaire). Hier lässt es sich gut draußen sitzen bei einem Glas und Pariser beobachten – wie die Pariser es selber gerne tun.

Viele Geschäfte öffnen erst um 11 Uhr, am Sonntag und Montag haben die meisten geschlossen. Métro: Château d´eau

Paris + Schnee = problème

Das letzte Mal schneite es so viel in Paris vor fünf Jahren. Die Nachbarin warnte damals: „Fahren Sie um Gottes Willen nicht mit dem Auto!“ Ich erwiderte: „Keine Sorge, ich habe Winterreifen.“ „Ja, Sie vielleicht, aber alle andern nicht. Die Pariser sind das Problem, nicht Sie!“

Schnee auf Notre-Dame und Seine-Hochwasser davor

Jetzt ist es wieder passiert. Zwölf Zentimeter Schnee reichen aus, den Großraum Paris ziemlich lahm zu legen. Paris ist noch weißer also sowieso schon. Staurekord 740 Kilometer. Auf einer Landstraße südlich von Paris haben Menschen in ihren Autos überachten müssen, weil nichts mehr ging. Am Mittwoch fuhren keine Busse mehr, Schulen stellten den Unterricht ein, die Präfektur ruft auf, die Autos zu Hause stehen zu lassen. Die Abendnachrichten beginnen nicht mit der wichtigen Rede des Präsidenten auf Korsika, sondern mit dem Thema Schnee.

Spaßvögel fahren den Montmartre-Hügel mit Skiern runter, auf dem Marsfeld sind Langläufer unterwegs. Die Stadt ist herrlich ruhig wie nie. Horden von Fotografen schwirren aus, um diese seltene, einzigartige Stimmung einzufangen – Hochwasser ist ja auch noch. Paris liegt im Pariser Becken, das Klima ist gemäßigt, die Winter eher regnerisch und schneearm. Ein paar Flocken ja, aber ein paar Zentimeter? Damit kann Paris nicht umgehen.

Die Metro fuhr am Mittwoch, die Busse nicht mehr.

In den Zeitungen wird debattiert, warum das so ist. Weil so selten Schnee fällt, haben die Gemeinden nicht sehr viele Räum- und Streufahrzeuge, das rentiere sich nicht. Und die Fahrzeuge, die unterwegs sind, kommen nur langsam voran, weil der Verkehr in Paris so chaotisch ist.

In Frankreich herrscht normalerweise keine Winterreifenpflicht. Die Pariser wollen für diese extra Reifen zudem kein Geld ausgeben – das lohne sich nicht für die paar Durchschnitts-Flocken. Sie wüssten außerdem gar nicht, wo sie die Autoreifen in ihren kleinen Appartements lagern sollten. Kaum schneit es also ein bisschen mehr, beginnt das große Sommerreifen-Schliddern.

Fotos machen kann ja jeder…

Alle wissen: Dauert ja eh nur einen Tag. On s´adapte. Schneeschaufel? Gestern habe ich einen Kioskbesitzer gesehen, der mit einem Stück Plexiglas den Schnee vor seinem Zeitungskiosk wegräumen wollte. Andere werkelten mit Laubrechen und Besen rum.

Letzte Nacht hat es gefroren. Aus Schnee wurde Eis. Bald soll es weiter schneien. Damit hat Paris nicht gerechnet und einige Medien gehen der Fragen nach: Wie machen das eigentlich andere Metropolen wie London oder Moskau, wenn sowas tatsächlich mal im Winter passiert?